sozial-Thema

Kindesmissbrauch

Opfer: "Leute, fangt an zu reden!"




Themenfoto Missbrauch in der Kirche
epd-bild/Heike Lyding
Die ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche hat die Kirchen aufgeschreckt. Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung äußerte sich bei einem Podium kritisch zum Umgang mit Macht. Die Kirche müsse stärker die Betroffenenperspektive einnehmen, sagte Jung.

Frankfurt a.M. (epd). Für das Thema Missbrauch sensibilisieren, eine Sprache finden, die es Betroffenen ermöglicht zu sprechen, die Kultur des Miteinanders in den Kirchengemeinden verändern und Kinder stark machen: Die Teilnehmenden des Podiums „Macht und Missbrauch in der Evangelischen Kirche“ haben am 14. Februar in der Evangelischen Akademie in Frankfurt am Main zusammengefasst, was geschehen muss, um Menschen besser vor Missbrauch zu schützen. Die Akademie hatte eingeladen, über die am 25. Januar erschienene ForuM-Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche zu diskutieren.

Dreßing: Standards für Aktenpflege fehlen

Laut Studie ergab die Stichprobe zwischen den Jahren 1945 und 2020 insgesamt 1.259 des Missbrauchs Beschuldigte und 2.225 Fälle bei einer hohen Dunkelziffer. Von einer „hohen Heterogenität“ des untersuchten Aktenmaterials sprach der Psychiater Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Er hat an der ForuM-Studie mitgearbeitet und auch an der 2018 erschienen MHG-Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche. In den evangelischen Akten zeige sich, dass verbindliche Standards für deren Pflege fehlten, was die Auswertung erschwert habe.

Als spezifische evangelische Bedingungen, die Missbrauch begünstigen, nannte Dreßing Verantwortungsdiffusion, Harmoniezwang und das Selbstbild „von der besseren Kirche“. Deutlich geworden sei, dass es in der katholischen und der evangelischen Kirche gleichermaßen zu „Missbrauch pastoraler Macht“ komme.

Jung: Selbstkritisch mit der eigenen Macht auseinandersetzen

Der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, erläuterte, er sei bei allen Entscheidungen in Gremien eingebunden und könne beispielsweise keine Personalentscheidung alleine treffen. Damit verwies er auf die Strukturen der Mitsprache in der evangelischen Kirche. Dennoch gebe es auch hier Machtstrukturen in allen Bereichen. Sie zeigten sich etwa in Hierarchien am Arbeitsplatz, in der Jugendarbeit oder der Deutungshoheit des Pfarrers. Es sei wichtig, sich selbstkritisch mit der eigenen Machtposition auseinanderzusetzen, sagte Jung. Er selbst tue dies mithilfe von Coaching und wünsche sich, dass der Umgang mit Macht bereits in der Pfarrausbildung thematisiert werde.

Durch die Begegnungen mit Betroffenen und die Studienergebnisse habe er gelernt, dass die Kirche stärker die Betroffenenperspektive einnehmen müsse, sagte Jung. Diese empfänden zum Teil auch eine Verwaltung als ein machtvolles Gegenüber. „Wir müssen lernen, uns so zu verhalten, dass wir Betroffenen tatsächlich helfen können“, betonte der Kirchenpräsident.

„Staat kommt auch nicht in die Pötte“

Matthias Schwarz, selbst von Missbrauch betroffen und bis November vergangenen Jahres Pfarrer im Vogelsberg, warnte vor dem Ruf nach dem Staat, der sich stärker in die Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch einbringen solle. „Ich erlebe den Ruf nach dem Staat als Ruf nach jemandem, der selbst nicht in die Pötte kommt“, sagte Schwarz und nannte die Bereiche Sport und Schule, wo noch viel zu wenig passiere. Er forderte klare und einheitliche Standards für Aufklärung, Aufarbeitung und den Umgang mit Betroffenen in der Kirche.

„Wir müssen eine Haltung nach außen vermitteln, die deutlich macht, dass hier kein Platz für sexualisierte Gewalt ist“, sagte Schwarz, der Teil der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. Diese Haltung müsse sich in jeder Gemeinde ausbreiten. „Leute, fangt an, darüber zu reden“, forderte er auf. Ohne über den Missbrauch zu sprechen, könne es nicht zu einem Kulturwandel kommen. Moderatorin Claudia Keller, Chefredakteurin des evangelischen Magazins „chrismon“, forderte evangelische Kirchengemeinden auf, ihre Räume zu öffnen und sich mit den Ergebnissen der Studie zu beschäftigen.

Renate Haller


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