sozial-Branche

Armut

Gastbeitrag

Menschen in Armut erzählen ihre Lebensgeschichte




Kim Bräuer (li.) und Christine Noack
epd-bild/Diakonie Schleswig-Holstein/Ulf-Kersten Neelsen
Anhand der konkreten Lebensgeschichten von Menschen in Armut macht das Forschungsprojekt "Armut in Schleswig-Holstein" deutlich, welche Umstände Armut fördern. Die Ergebnisse geben auch Hinweise darauf, was bei der Ausgestaltung sozialer Hilfsangebote beachtet werden sollte.

Das Gesicht der Armut in Deutschland ist oft unsichtbar, liegt verborgen hinter Statistiken und Wirtschaftsdaten. Das Forschungsprojekt „Armut in Schleswig-Holstein“ eröffnet jedoch einen sehr guten Einblick in die Lebensrealitäten der Menschen im nördlichsten Bundesland und ein tieferes Verständnis für die Ursachen und Auswirkungen dieses drängenden gesellschaftlichen Problems.

Die vom Diakonischen Werk Schleswig-Holstein finanzierte Studie der Fachhochschule Kiel wurde zwischen April 2022 und Mai 2023 erstellt. In dieser Zeit wurden 20 Menschen interviewt, die entweder aktuell oder früher in ihrem Leben Armut erfahren haben. Die Ergebnisse treffen nicht nur für Schleswig-Holstein zu, sondern lassen sich zu großen Teilen deutschlandweit wiederfinden.

Schwierige Suche nach Interviewpartnern

Die Akquise von Interviewpartnern erwies sich als besonders anspruchsvoll und langwierig. Über Aushänge, lokale Zeitungen und soziale Medien suchte das Forschungsteam nach Personen, die nach eigener Einschätzung in Armut leben oder lebten. Die Resonanz war gering, so dass zusätzlich über Beratungsstellen Personen angesprochen wurden. Das mit dem Thema Armut verbundene Stigma führte zu einer anfänglichen Zurückhaltung der Betroffenen, ihre persönlichen Erfahrungen mitzuteilen. Teilweise wurden sogar Interviews im Nachhinein zurückgezogen.

Trotzdem ist es gelungen, eine vielfältige Gruppe von Befragten zu finden und so deren verschiedene Perspektiven auf Armut zu gewinnen. Die Personen waren zwischen 23 und 81 Jahren alt, sie lebten sowohl im ländlichen Raum wie in Städten, mit und ohne Verantwortung für Kinder. Diese breite Auswahl ermöglichte es, Muster zu identifizieren, die über individuelle Geschichten hinausgehen.

Einzelgespräche und Gruppendiskussionen

Die biografisch-narrativen Interviews dauerten im Schnitt zweieinhalb Stunden, in Einzelfällen auch bis zu acht Stunden. Sie wurden zwischen Offenheit und Zurückhaltung geführt, wobei die Interviewten zwischen dem Wunsch nach Sichtbarkeit und der Angst vor Stigmatisierung balancierten. Die anschließende Auswertung der Interviews erfolgte auf mehreren Ebenen, wobei verschiedene Analysemethoden angewandt wurden.

Um noch mehr Perspektiven einzubeziehen, fanden zusätzlich zwei Gruppendiskussionen statt. An denen nahmen bereits interviewte Personen teil und sie boten Raum für gemeinsame Überlegungen. Die Diskussionen konzentrierten sich auf Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und einer guten Gesellschaft, um gemeinsame und sich widersprechende Sichtweisen und Erfahrungen sichtbar zu machen.

Die Kernergebnisse dieser Gruppendiskussionen bestätigten und vertieften viele der individuellen Erzählungen. Das ständige Ringen um Würde in der Armut wurde betont, aber auch die Ambivalenz von Hilfeangeboten hervorgehoben.

Kernergebnisse der Interviews:

Lebensrealität und Bewältigungsstrategien: Die Betroffenen berichteten über den täglichen Kampf um Würde und Anerkennung. Wiederholt zu hören war, dass Armut sie oft zu Verhaltensweisen zwingt, die von ihnen als entwürdigend empfunden werden. Die Studie zeigt, dass wenig hilfreiche oder auch unangemessene Hilfe in einigen Fällen sogar den Weg in die Armut ebnete. Dabei betonen die Befragten die Notwendigkeit spezifischer Hilfsangebote, die individuelle Bedürfnisse besser berücksichtigen.

Wahrnehmung der eigenen Armut: Die Wahrnehmung der eigenen Armut wird stark von sozialen Netzwerken und dem Verhalten professionell Helfender beeinflusst. Nicht nur materielle Unterstützung, sondern auch die emotionale und psychosoziale Begleitung hat einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen.

Ursachen und Einflussfaktoren: Ein hoher Bildungsstand, ein stabiles soziales Netzwerk und eine gute körperliche Verfassung schützen nicht zwangsläufig vor Armut. Besonders Alleinerziehende stehen vor dem Dilemma, zwischen Sorge- und Erwerbsarbeit wählen zu müssen. Die ökonomische Armut von Frauen wird durch die Bereitschaft zur Care-Arbeit und die Übernahme traditioneller Rollenbilder begünstigt.

Scham und gesellschaftliche Wahrnehmung: Die Studienteilnehmer empfinden nicht nur ihre Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags als ungerecht, sondern auch, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Viele fühlen sich nicht als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder und kämpfen täglich um Dinge, die aus ihrer Sicht für andere selbstverständlich sind.

Sozialpolitische Folgerungen

Zwei große Themen durchziehen die Studie: Das Ringen um Würde, unabhängig vom sozialen Status, und die Suche nach Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Ordnung. Daraus resultieren auch Haltungsfragen, die die Soziale Arbeit beschäftigen sollten:

  • Partizipation und politische Teilhabe sind unverzichtbar. Menschen, mit Armutserfahrung müssen in Diskurse mit ihrem Expertentum eingebunden werden.
  • Armutserfahrung prägt den Alltag von Kindern. Es braucht eine armutsfeste Absicherung von Kindern, die alters- und lebenslagenbedingte Bedarfe berücksichtigt.
  • Vereinfachte Verfahren und barrierefreie Zugänge zu Transferleistungen sind erforderlich, um das Grundprinzip des Sozialstaats zu erfüllen, das Existenzminimum und ein Leben in Würde sicherzustellen.
  • Soziale Hilfsangebote müssen an den individuellen Bedarfen ausgerichtet sein und zusätzliche Beschämung vermeiden.
Kim Bräuer ist Professorin für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Schleswig-Holstein und Leiterin der Studie. Christine Noack arbeitet als Referentin für Ethik und Diakonie beim Diakonischen Werk Schleswig-Holstein.


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