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Behinderung

Digitaler Blindenhund: Technik statt Fell




Der digitale Blindenhund im Test in Hamburg
epd-bild/Evelyn Sander
Der bundesweit erste "digitale Blindenführhund" wird aktuell in Hamburg im Straßenverkehr getestet. Er wird fit gemacht für Ampeln, Hindernisse und entgegenkommende Fahrräder. Die Forschenden hoffen, dass er in ein paar Jahren seinem tierischen Vorbild Konkurrenz machen kann.

Hamburg (epd). Seinen Blindenstock klappt André Rabe zusammen, den braucht er jetzt nicht mehr. Heute testet er den „digitalen Blindenhund“ der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg (HAW). Zwischen U-Bahn-Haltestelle, Straßenkreuzung und Park steuert sein „Shared Guide Dog“ Richtung Ampel. Der automatisierte Führhund, der wie ein fahrerloses Transportfahrzeug funktioniert, bremst. Das soll er auch. Es ist rot. „Auch wenn Kinder oder Fahrräder plötzlich den Weg kreuzen, muss das Gerät automatisch abbremsen“, erklärt Initiator und Logistik-Professor Henner Gärtner (50) sein bundesweit einzigartiges Projekt. Die Technologie basiert auf einem geländegängigen Rollator, der elektronisch angetrieben wird und mit Sensoren ausgestattet ist.

Rabe umfasst die gepolsterten Handgriffe, tastet nach vorne. Wo normalerweise ein Korb wäre, sind hier unter einer Abdeckhaube die Technik samt Laptop verbaut. „Manchmal ruckelt er beim Beschleunigen etwas“, grinst Rabe. Ansonsten fühle es sich „richtig gut an“, sagt der 53-Jährige, der blind geboren wurde.

Projektarbeit dauert bereits vier Jahre

Seit vier Jahren arbeiten die Forscher der HAW am technikgestützten Führhund, technisch sei er schon sehr weit. Dutzende Studierende haben daran mitgearbeitet. „Mir geht es dabei nicht nur um Technik-Fragen der Mikro-Mobiltät, sondern auch darum, dass angehende Ingenieurinnen und Ingenieure oft erstmals in ihrem Leben mit dem Thema Inklusion in Kontakt kommen“, sagt Gärtner.

Die Haube hat Projektleiter Pascal Stahr für den Straßentest abgenommen, er checkt die Einstellungen des Laptops. Wie das Vorbild auf vier Pfoten, leitet der „Shared Guide Dog“ seinen Gast aktiv zum Ziel, das in diesem Fall per Handy-App oder Sprachnachricht eingegeben wurde. „Den Weg findet er mithilfe von Laserscanner, Radsensoren und GPS für die Positionierung“, erklärt der 28-jährige Maschinenbauingenieur. Bei Hindernissen bremst der Rollator ab. „Im Moment navigieren wir noch sehr passiv, später sollen auch Ausweichmanöver möglich sein“, sagt Stahr.

Digitale Technik erkennt nicht nur Bodenhindernisse

Schon heute sammelt der digitale Führhund Pluspunkte gegenüber dem Blindenstock: Während dieser nur Hindernisse am Boden erfasst, bremst das Gerät auch bei herabhängenden Ästen, die blinde Menschen sonst im Gesicht verletzen würden. Aktuell arbeitet eine Studierendengruppe daran, dass Pfützen rechtzeitig erkannt und umfahren werden. „Das lohnt sich, in Hamburg regnet es ja nun häufiger“, sagt Professor Gärtner und lacht. Aktuell testen er und sein Kollege Rasmus Rettig eine neue Kollisionswarn-Technik, die Fahrradfahrer via App vor einem möglichen Zusammenstoß mit dem „Shared Guide Dog“ warnt.

Eine Herausforderung bleibe die Navigation in der Stadt. „GPS funktioniert in der Nähe hoher Gebäude nicht zuverlässig genug“, sagt der HAW-Professor, der deshalb für kniffelige Ecken mit seinem Forscherteam das Ultraweitband (UWB) als Alternative zum GPS ausgetüftelt hat. Damit der Führhund auch auf Gehwegen gut navigieren kann, werden im neuen Forschungsprojekt „GehwegNavi“ vorhandene Positionsdaten über Hindernissen wie Fahrradständer, Briefkästen oder Litfaßsäulen in Navigationshinweise umgewandelt.

Ziel: „Freiheit und Eigenständigkeit ermöglichen“

Wenn die Technik ausgereift ist, soll der „digitale Blindenhund“ ähnlich wie Sharing-Fahrräder an öffentlichen Plätzen, Bahnhöfen, Krankenhäusern oder in Seniorenresidenzen und Wohngruppen stehen, um blinde oder seheingeschränkte Menschen zu unterstützen. „Wir wollen ihnen mehr Freiheit und Eigenständigkeit ermöglichen“, sagt Gärtner. Die mit Robotertechnik ausgestattete Gehhilfe vermittle Sicherheit bei Spaziergängen oder könne auch jemanden von der nächstgelegenen U-Bahn-Station abholen. „Eine besondere Herausforderung sind hier noch rechtliche Fragen des öffentlichen Verkehrs“, erklärt Gärtner.

Beim betreuten Testlauf ist das noch kein Thema. Gerade rollt der „Shared Guide Dog“ mit André Rabe über einen Kiesweg in den Park. Wie Rabe den digitalen Führhund am liebsten einsetzen würde? Joggen wär schön, sagt er.

Evelyn Sander