sozial-Politik

Sucht

Interview

"Eine extrem teure Erkrankung"




Tobias Hayer
epd-bild/Dieter Sell
In Deutschland sind rund 1,3 Millionen Menschen süchtig nach Glücksspiel. Wer besonders häufig betroffen ist, wie hoch die Chancen auf Heilung sind und welchen Einfluss der Lockdown hatte, erklärt der Suchtforscher Tobias Hayer im Interview.

Bremen (epd). Der Bremer Glücksspielforscher Tobias Hayer sieht angesichts 1,3 Millionen Glücksspielsüchtiger bundesweit ein Defizit bei Beratung und Aufklärung. „Eine große Lücke besteht bei der Erreichbarkeit der Betroffenen, da nur etwa zehn bis 15 Prozent überhaupt entsprechende Beratungs- und Behandlungsangebote wahrnehmen“, sagt er. Mit ihm sprach Stefanie Unbehauen.

epd sozial: Herr Hayer, gibt es „den typischen“ Glücksspielsüchtigen?

Tobias Hayer: Zunächst einmal gibt es Bevölkerungsgruppen, die besonders häufig von glücksspielbezogenen Problemen betroffen sind. Hierzu zählen unter anderem Männer, junge Menschen sowie Personen bildungsferner Schichten.

epd: Ergreifen Menschen mit einer Tendenz zur Spielsucht häufiger Berufe, in denen Geld den zentralen Faktor spielt? Zum Beispiel im Bank- oder Versicherungswesen?

Hayer: Erste Forschungsstudien deuten tatsächlich an, dass für bestimmte Berufsgruppen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung glücksspielbezogener Probleme besteht. Das sind aber eher Bau- und Dienstleistungsberufe sowie Jobs mit monotonen manuellen Tätigkeiten. Auch das Transportwesen, also zum Beispiel Taxi- und LKW-Fahrer, ist häufig betroffen.

epd : Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?

Hayer: Offenbar stellt die Mobilität in Kombination mit Bargeld in der Hosentasche eine risikoerhöhende Bedingung dar. Auch Servicekräfte, die in Spielhallen arbeiten, bilden eine Risikogruppe. Das dürfte an dem ständigen Ausgesetztsein mit Glücksspielreizen liegen. Bezogen auf den Sektor der Finanzdienstleistungen sind schließlich Einzelfälle bekannt, bei denen Mitarbeitende Kundengelder veruntreut haben, um damit selbst - etwa an der Börse - zu zocken. Insgesamt deuten diese Befunde somit an, dass eher spezifische Umgebungsvariablen im jeweiligen Berufssetting für das Krankheitsgeschehen von Bedeutung sind als individuelle Faktoren wie Veranlagung.

epd: Wie gut stehen die Chancen auf Genesung und wie hoch ist die Rückfallquote im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen?

Hayer: Vereinfacht ausgedrückt lässt sich ähnlich wie bei anderen Suchterkrankungen folgende Daumenregel festhalten: Ein Drittel aller Betroffenen mit Kontakt zum formalen Hilfesystem lebt dauerhaft abstinent, bei einem weiteren Drittel kommt es trotz einzelner Rückfälle zu einer erheblichen Verbesserung ihrer finanziellen und psychosozialen Situation. Die restlichen Personen versuchen den Ausstieg aus dem Krankheitsgeschehen oftmals mehrfach und mit verschiedenen Mitteln, leider aber ohne dauerhaften Erfolg.

epd: Welche politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen sind notwendig, um mehr Betroffenen zu helfen?

Hayer: Ein großes Defizit besteht grundsätzlich in der Erreichbarkeit der Betroffenen, da nur etwa zehn bis 15 Prozent überhaupt entsprechende Beratungs- und Behandlungsangebote wahrnehmen. Suchttypische Tendenzen der Bagatellisierung, Rationalisierung und Selbsttäuschung, die fehlende Krankheitseinsicht, Schuld- und Schamgefühle, aber auch Vorhaben, das Problem eigenständig lösen zu wollen, spielen hier eine wichtige Rolle. Gesamtgesellschaftlich muss es daher das Ziel sein, intensiver über das Krankheitsbild der Glücksspielsucht aufzuklären, vorhandene Vorteile abzubauen und Prozesse der Stigmatisierung bestmöglich zu verhindern.

epd: Bei einer Spielsucht stehen neben den psychischen Folgen die finanziellen im Mittelpunkt. Besteht hier die Gefahr, dass finanzielle Probleme die psychischen weiter verstärken, sich der Betroffene dadurch noch mehr zurückzieht und so ein Teufelskreis entsteht?

Hayer: Es liegt auf der Hand, dass die Glücksspielsucht eine extrem teure Suchterkrankung darstellt. Eine weitere Besonderheit bezieht sich auf fehlende, von außen sichtbare Krankheitsanzeichen, wie Nadeleinstiche im Falle einer Drogenabhängigkeit oder ein torkelnder Gang im Falle einer alkoholbezogenen Störung. Daher ist es für die Betroffenen vergleichsweise einfach, ihre Erkrankung vor dem sozialen Nahumfeld geheim zu halten, ein Lügengerüst aufzubauen und teilweise über Jahre ein Doppelleben zu führen. Kurzgefasst: Spieler sind in der Regel gute „Schau-Spieler“.

epd: Schauspieler?

Hayer: Nehmen wir zum Beispiel das Leihen von Geld. Hier sind glücksspielsüchtige Personen oftmals sehr erfinderisch, kreativ und überzeugend. Wird das Geld zum Zocken dennoch knapp, sinken sukzessiv moralische Hemmschwellen. Zunächst muss das Sparschwein der Kinder daran glauben, am Ende einer Spielerkarriere stehen nicht selten diverse Akte der Beschaffungskriminalität. Unterm Strich bedingen sich finanzielle und psychische Probleme im Entwicklungsverlauf in einer Art Abwärtsspirale tatsächlich gegenseitig.

epd: Wie bei allen stoffungebundenen Suchtarten spielt Dopamin eine entscheidende Rolle. Können Sie sagen, zu welchem Anteil die Genetik einen Einfluss darauf hat, wieso manche Menschen spielsüchtig werden und andere nicht? Gibt es bestimmte Charaktereigenschaften wie übersteigerter Ehrgeiz oder Perfektionismus, die die Wahrscheinlichkeit für solch eine Suchterkrankung erhöhen?

Hayer: Vor allem Zwillingsstudien legen einen deutlichen genetischen Einfluss auf die Entwicklung einer Glücksspielsucht nahe. Hinzu kommt die Beobachtung, dass Kinder, bei denen ein Elternteil Probleme im Umgang mit Glücksspielen hat, ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko aufweisen, selbst später exzessiv zu zocken. Allerdings gibt es weder das Glücksspielsucht-Gen noch eine fest zementierte Glücksspieler-Persönlichkeit. Vielmehr werden einzelne Gene mit bestimmten Persönlichkeitsdispositionen in Zusammenhang gebracht, wie etwa eine hohe Impulsivität, eine ausgeprägte Risikobereitschaft oder veränderte Belohnungseigenschaften im Gehirn, Stichwort Dopamin. Diese individuelle genetische Ausstattung muss aber immer auf spezifische Umweltfaktoren treffen, um überhaupt handlungswirksam zu werden. Letztlich geht es wie bei allen anderen psychischen Störungen immer um das Zusammenspiel von genetischen und umgebungsbezogenen Variablen.

epd: Welchen Einfluss hatte der pandemiebedingte Lockdown und der damit einhergehende Verlust der gewohnten Struktur auf Betroffene?

Hayer: Zunächst einmal bedeutete der Lockdown eine extreme Form der Verfügbarkeitsbeschränkung, da eine Zeit lang alle Spielhallen, Gaststätten und Spielbanken sowie größtenteils auch die Wettbüros schließen mussten. Zudem fanden kaum noch Sportveranstaltungen statt, auf die man wetten konnte. Begleitende Forschungsstudien aus dem In- und Ausland zeigen, dass auf Bevölkerungsebene ein Rückgang der Glücksspielbeteiligung zu verzeichnen war. Viele Betroffene berichteten von einer entlastenden Situation, nicht mehr permanent mit Spielanreizen und Spielmöglichkeiten - zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit - konfrontiert gewesen zu sein.

epd: Der Lockdown hatte also eine positive Wirkung auf das Spielverhalten? Die Befürchtung vieler Beratungsstellen war, dass Spielsüchtige Ihre Sucht ins Internet verlagert würden. War diese Angst unbegründet?

Hayer: Bei einer Minderheit konnte tatsächlich eine Zunahme der Glücksspielaktivitäten festgestellt werden. Hierbei handelte es sich um eher jüngere Personen männlichen Geschlechts, die bereits vor der Pandemie intensiv gezockt hatten und nunmehr ihre gesamten Glücksspielaktivitäten ins Internet verlagerten. Da es sich aber nicht um eine Massenbewegung handelte, kann dies als weiterer Beleg für den suchtpräventiven Nutzen von Verfügbarkeitsbeschränkungen gewertet werden.



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