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Bildung

Interview

Forscherin: Einigkeit ist leider ziemlich gering




Susanne Kuger
epd-bild/Fabian Vogl/DJI
Bildungsföderalismus, fehlende pädagogische Standards und ein lückenhaftes Sprachscreening: Die Bildungsforscherin Susanne Kuger kennt viele Gründe für das schlechte Abschneiden Deutschlands im Pisa-Vergleich. Was zu tun ist, erläutert die Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) im Interview mit epd sozial.

München (epd). Dass es mit der Qualität im deutschen Bildungssystem vor allem bei den Kleinsten nicht vorangeht, ist vielfach belegt. Die Gründe sind für Susanne Kuger vielfältig: „Das Thema ist sehr komplex“, so die Expertin. Kernproblem im Föderalismus: „Die Einigkeit, wie man da am besten hinkommt, ist leider sehr gering“, sagt die Forschungsdirektorin. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Der erste Pisa-Schock liegt 20 Jahre zurück. Nach zwischenzeitlichen kleinen Verbesserungen gab es jüngst wieder ein schlechtes Ergebnis für Deutschland. Warum geht es nicht voran in der Bildungspolitik?

Susanne Kuger: Darauf gibt es leider keine einfache Antwort. Das Thema Bildung ist sehr komplex. Auf politischer Seite ist für uns als Forschende der Föderalismus eine stete Herausforderung. Bildung ist Ländersache, und die Länder verfolgen teilweise ganz unterschiedliche Ziele mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Konzepten. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fällt es manchmal schwer nachzuvollziehen, dass auch nach vielen Jahren die vorliegenden Erkenntnisse nicht dazu genutzt werden, um den vielbeschworenen Bestenwettbewerb unter den Ländern herzustellen. Hierzulande wurde stattdessen eine unüberschaubare Vielfalt an Konzepten geschaffen, die, das muss man so klar sagen, oft nicht zielführend ist. Dazu kommt, dass selbst in den zuständigen Landesministerien die Komplexität der Ansätze und Projekte oft nicht mehr überschaut wird.

epd: Aber der Wille, zu besseren Bildungsresultaten zu kommen, ist doch immerhin vorhanden ...

Kuger: Auf jeden Fall. Alle Bundesländer sind ernsthaft daran interessiert, die Dinge in den Schulen und damit die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Doch die Einigkeit, wie man da am besten hinkommt, ist leider sehr gering. In der Vergangenheit wurden viele Programme gestartet, von denen abernicht in allen Fällen klar war, ob sie funktionieren oder nicht. Ich erinnere nur an das „Schreiben nach Gehör“, das einige Bundesländer eingeführt hatten, um es dann wieder abzuschaffen, nachdem die wissenschaftlichen Befunde nicht mehr zu überhören waren. Ein ziemlich schädlicher Versuch für die Schülerinnen und Schüler, dem zuvor jede Evidenz gefehlt hat.

epd: Wie lässt sich die hiesige Bildungspolitik verdichtet beschreiben?

Kuger: Es ist eine Mischung aus Aktionismus in der Politik, eine Verzettelung von zu vielen Akteuren, die bei zu wenig fundiertem Wissen manchmal Entscheidungen treffen, die letztlich am gewünschten Erfolg vorbeiführen. Und das alles bei sehr knappen finanziellen Ressourcen. Von der Summe her gesehen sind die Bildungsausgaben in den vergangenen Jahren zwar gestiegen, das zeigt auch der Bildungsfinanzbericht, aber die Pro-Kopf-Ausgaben pro Grundschüler sind im EU-Vergleich alles andere als spitze.

epd: Jedes Bundesland hat doch Bildungspläne für die Kindergartenjahre. Steht da überall das Richtige drin?

Kuger: Zunächst das Hauptproblem vorweg: Die Bildungs- und in manchen Bundesländern Orientierungspläne für die Bildungsphase vor der Einschulung sind nicht immer verpflichtend. Sie sind oft nur eine Empfehlung, wie frühe Bildung stattfinden kann. Gleichzeitig findet in der Praxis natürlich vielerorts frühe Bildung statt, wenn auch nicht nach fixen Vorgaben oder gar einheitlichen Standards. Das ist heute zum Glück schon anders als vor 20 Jahren, als der Kindergarten noch stärker um seinen eigenständigen Bildungsauftrag gerungen hat und herausstellen musste, dass er mehr bietet als nur Betreuung. Es bleibt aber dabei, dass es für die Kitas keine Bildungsstandards gibt, die existieren nur für den Schulbereich.

epd: Sollte das geändert werden?

Kuger: Das kann man schlecht sagen. Um Standards von einem Bildungsabschnitt zu verlangen, müsste der ja in die Lage versetzt werden, mit allen Kindern arbeiten zu können. Es gibt aber keine Kitapflicht. Das bedeutet, auch wenn die frühe Bildung im Kindergarten verbindlich geregelt würde, werden nie alle Kinder eines Jahrgangs davon profitieren, weil nicht alle in einer Kita oder in der Kindertagesbetreuung sind.

epd: Aber es gibt doch wegen des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz hohe Besuchsquoten. Also hat man doch zumindest im Vorschuljahr schon viele Kinder in den Einrichtungen ...

Kuger: Ja, das stimmt. Bei den Sechsjährigen sind es etwa 96 Prozent, die eine Kita besuchen. Hier eine Kita-Pflicht zu diskutieren, ist irrelevant. Und natürlich sind sich alle einig, dass Kinder bis zum Ende der Kindergartenzeit bestimmte Fähigkeiten vorweisen sollten, wie etwa ausreichende Sprachkenntnisse. Doch es ist und bleibt schwierig, sich dazu auf Bildungsstandards zu einigen. Dabei wäre es wichtig, dass der Staat eine Garantie dafür abgibt, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um allen Kindern die Chance zu geben, zum Zeitpunkt der Einschulung so fit zu sein, dass sie unter anderem dem Schulunterricht in der Grundschule folgen können.

epd: Was würde da bindend vermittelt werden?

Kuger: Es geht gar nicht nur um gute Sprachkenntnisse, die natürlich auch wichtig sind. Dazu gehört auch eine große Vielfalt anderer Fähigkeiten und Fertigkeiten, etwa, dass die Mädchen und Jungen mal eine gewisse Weile lang ihre Bedürfnisse zurückstellen können, nicht zu laut aber auch nicht zu leise sind. Dass sie ihre Schuhe selbst binden können und dass sie in der Lage sind, in einer Gruppe Regeln zu befolgen, aber auch ihre Interessen vertreten und sich insgesamt auch mit fremden Kindern arrangieren können. All das sind Bereiche, in denen die Kinder die erwähnte Garantie der Förderung bekommen sollten.

epd: Was ist mit dem Hilfsmittel der Sprachstandserhebungen?

Kuger: Es fehlt ganz grundsätzlich an systematischen und länderübergreifend vergleichbaren Beobachtungen von Dreijährigen und Vierjährigen. Es gibt zwar überall Sprachstandserhebungen, aber die eingesetzten Instrumente sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich und die Ergebnisse deshalb nur bedingt vergleichbar. In den wenigsten Sprachstandserhebungen werden alle wissenschaftlich relevanten Bereiche der Sprachentwicklung erfasst. Es ist nun einmal keine umfassende Sprachdiagnostik, wenn eine Erzieherin zweimal im Jahr eine Checkliste ausfüllt. Dafür ist sie auch nicht zuständig, und dafür wurde sie nicht ausgebildet. Diese Tests wären aber notwendig, um genau zu wissen, wo ein bestimmtes Kind noch Hilfe benötigt.

epd: Wie lässt sich das Problem lösen?

Kuger: Man müsste systematischer vorgehen und mit allen idealerweise vierjährigen Kindern ein Screening machen. So erkennt man, wie weit der Weg noch ist, um, bleiben wir beim Beispiel, vom Sprachstand her in der Grundschule bestehen zu können. Auf dieser Basis kann man dann gemeinsam mit anderen Professionen wie Logopäden überlegen, welche Förderungen im Einzelfall nötig sind. Ganz neu ist das nicht. Baden-Württemberg hat das zum Beispiel im Projekt „Schulreifes Kind“ umgesetzt. Dort wurden runde Tische eingerichtet mit der pädagogischen Fachkraft, der Grundschullehrkraft und gegebenenfalls weiterem Fachpersonal, die dann gemeinsam einen Förderplan verfasst haben. Es gibt also durchaus funktionierende Modelle, die sich jedoch nur dann flächendeckend umsetzen lassen, wenn man ordentlich Geld investiert.

epd: Hamburg hat schon vor Jahren reagiert und ist mit Sprachtests und Hilfen erfolgreich. Also scheint die Problemlösung nicht nur eine Frage des Geldes zu sein?

Kuger: Ja, Hamburg hat tatsächlich das Schulsystem und den Bereich der frühen Bildung umgekrempelt und die verschiedenen Teilkomponenten seiner Hilfesysteme gut verknüpft. Es gibt hier flächendeckende Sprachdiagnostik und auch regelmäßige Leistungsfeststellungen jenseits der Grundschule. Und, auch das ist relevant, Hamburg hat vor einigen Jahren alle Grundschulen auf Ganztagsbetrieb umgestellt und bietet zahlreiche Förderangebote an, sehr eng vernetzt mit der Kinder- und Jugendhilfe. Ziel ist es, über die Säulen der verschiedenen Hilfesysteme hinweg an der Lebenslage der Kinder anzusetzen. Ähnlich grundlegend sind auch die Veränderungen in der Ausstattung der Bildungsorte auf Basis von Sozialraumbewertungen, das heißt, in allen Vierteln der Stadt wurden Problemgebiete ermittelt. Schulen, die aufgrund sozialer Indikatoren einen besonderen Bedarf haben, bekommen mehr Geld zugewiesen, je nachdem, wie schwierig das Klientel ist, mit dem sie es zu tun haben.

epd: Braucht man ein spezielles Förderprogramm für Kitas in schwierigen Sozialräumen? Das wäre dann die gleiche Idee, die hinter dem „Startchancenprogramm“ für Schulen steckt.

Kuger: Es wäre zu überlegen, Kinder mit zum Beispiel besonderem Hilfebedarf in Kitas noch stärker zu berücksichtigten. Es gibt diese Ansätze schon, aber sie sind vielleicht noch nicht ausreichend. Mit Blick auf die Probleme des Spracherwerbs darf man zum Beispiel nicht allein darauf abheben, dass nur Kinder aus Migrantenfamilien betroffen sind. Damit hat auch ein substanzieller Teil von Kindern aus deutschsprachigen Familien zu kämpfen. Sie erleben in ihrem Alltag keine so reichhaltige Sprache mehr, als dass sie sie richtig erlernen könnten. Ein Migrationshintergrund und ein nicht Deutsch sprechender Familienhaushalt sind da nur ein Teil des Problems. Ein Ansatzpunkt waren die Sprach-Kitas, die aber als Förderprogramm ausgelaufen sind, weil der Bund das Modellprojekt beendet hat. Insgesamt ein guter Ansatz, aber die Vielzahl der angebotenen Sprachförderangebote in den Kitas war nicht mehr wirklich überschaubar - und wiederum war nicht alles, was eingesetzt wurde, nachweislich auch effektiv.

epd: Müsste die Erzieherausbildung reformiert werden mit Blick auf die frühe Bildung?

Kuger: Das sehe ich nicht als zwingend notwendig an. Man kann sicher darüber nachdenken, ob es nicht besser wäre, früher mit einer Spezialisierung auf einen gewissen Altersbereich zu beginnen. Doch eine Fokussierung auf die frühe Kindheit hätte auch Nachteile, weil sie das Feld der beruflichen Einsatzmöglichkeiten einengt. Die Vielseitigkeit ermöglicht es auch, sich beruflich weiterzuentwickeln, und zum Beispiel in der pädagogischen Arbeit zwischen verschiedenen Altersgruppen an zu betreuenden Kindern zu wechseln. Das eröffnet auch Perspektiven für die Mitarbeitenden, noch mal was Neues zu beginnen, wenn Sie das wollen.

epd: Reden wir zum Schluss noch über das Problem des Fachkräftemangels, der ja alle Bemühungen, die frühe Bildung voranzubringen, auch durchkreuzen kann.

Kuger: Es gibt in der Tat in bestimmten Regionen Probleme, Fachpersonal zu finden. Und meines Erachtens ist keine schnelle Lösung in Sicht. Aber man muss auch wissen, dass sich die Zahl der Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahren insgesamt verdreifacht hat. Wir haben es mit einem sehr dynamischen Sektor im Arbeitsmarkt zu tun und sind grundsätzlich auf einem guten Weg. Leider reicht das mitunter noch immer nicht aus, unter anderem auch weil nach einem zwischenzeitlichen Geburtenzuwachs durch die vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchteten Familien vermehrt kleine Kinder in die Betreuung kommen. Derzeit ist leider auch keine Besserung absehbar, angesichts einer nicht unerheblichen Anzahl an Erkrankungen von Fachkräften und hoher Fluktuation. Erfreulich ist aber zugleich, dass die Anzahl der neu in die Ausbildung startenden Fachschülerinnen und Fachschüler ebenso nach oben geht wie die Anzahl der Berufseintritte. Der Beruf des Erziehers beziehungsweise der Erzieherin ist also durchaus attraktiv. Ein Problem liegt sicher auch noch im Halten der Fachkräfte. Da kann und muss man besser werden.