Göttingen, Tübingen (epd). Der Versuch ist gewagt, doch er gelingt. Mit wenigen Handgriffen wandelt sich der schmucklose Konferenzraum 0A2062.3 im Bettenhaus 2 der Universitätsmedizin Göttingen in einen Schönheitssalon. Die Telefone kommen auf den Fußboden, Blöcke und Stifte in den Schrank. Stattdessen werden Kosmetikspiegel auf den Tisch gestellt, dazu Tissue-Boxen, Wattepads, Tischmülleimer.
Acht Frauen nehmen an dem zweistündigen Kosmetikseminar „Look good, feel better“ der „DKMS life“ teil. Alle sind an Krebs erkrankt, sie haben Operationen, Bestrahlungen, Chemo- und Immuntherapien hinter sich oder stecken noch mittendrin. Die Therapien haben ihr Aussehen verändert. Haare, Wimpern und Augenbrauen sind ausgegangen, die Haut hat aufgrund der Bestrahlung Flecken bekommen. Sie ist fahl, trocken, gerötet, das Gesicht vom Cortison bei manchen rundlich geworden.
Hier setzt der kostenfreie Kosmetikkurs der „DKMS life“, einer Tochtergesellschaft der in Tübingen ansässigen Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) an. Kosmetikerinnen zeigen den Frauen, wie gut sie mit Mützen und Tüchern auf dem Kopf aussehen. Sie erklären ihnen, wie sie ihre empfindliche Haut pflegen und die Folgen der Therapie mit Schminke abdecken können. In insgesamt 27 Ländern weltweit werden die Schminkkurse für Krebspatientinnen angeboten.
„Die Kurse sind beliebt und schnell ausgebucht“, sagt Andrea Schmidt-Schweda. Sie ist ambulante „Breast and Cancer Care Nurse“ in der Universitätsmedizin Göttingen. Als solche begleitet sie Krebspatientinnen, fungiert als Bindeglied zwischen Ärzten und Patientinnen, vermittelt Kontakte in die Psychoonkologie, die Ernährungsberatung und auch zu den Kosmetikkursen. In der Universitätsmedizin Göttingen finden seit 2017 jedes Jahr rund vier bis sechs Schminkkurse statt.
2020 sind nach Schätzung des Zentrums für Krebsregisterdaten im Berliner Robert Koch-Institut insgesamt rund 493.200 Krebserkrankungen in Deutschland erstmalig diagnostiziert worden. Betroffen waren rund 261.800 Männer und 231.400 Frauen. Etwa die Hälfte der Fälle betraf Brustdrüse, Prostata, Dickdarm und Lunge. Etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Krebserkrankung, die in den vergangenen fünf Jahren diagnostiziert wurde, geschätzt mehr als 4,5 Millionen Menschen sind in den vergangenen 25 Jahren an Krebs erkrankt.
Eine von ihnen ist Jana Weiß. Die 51-Jährige bekam im April 2022 die Diagnose Brustkrebs: ein triple-negatives Mammakarzinom, eine aggressive Tumorart. „Ich weiß gar nicht mehr, wie ich damals, als ich das erfuhr, zu meinem Auto kam, ich habe nur geweint“, sagt die dreifache Mutter aus Thüringen. Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Bereits im Mai begann die Chemo, vier Zyklen. „Es war schrecklich, ich habe 16 Kilo abgenommen, mich nur übergeben und geschlafen.“
Doch die Therapie zeigte Wirkung. Der Tumor war auf den Bildern kaum noch erkennbar. Es folgten eine Operation, bei der das Gewebe um den Tumor entfernt wurde, sowie eine Bestrahlung der Brust. Am 6. Januar dann der Anruf: „Sie sind tumorfrei.“ Jana Weiß: „Da habe ich wieder geheult - aber dieses Mal vor Freude.“
Jetzt sitzt die Frau, die von sich selbst lachend sagt, sie habe sich noch nie geschminkt „außer an Fasching“, in Raum 0A2062.3 und öffnet mit den anderen Frauen neugierig die graue Tasche, auf der die Worte „Hoffnung ist schön“ stehen. Sekundenschnell ist der Tisch bedeckt mit Mascara, Reinigungslotion, Foundation, Lippenkonturenstiften, Sonnencreme, Tuchmasken, Gesichtswasser und Puderpinseln.
„Das ist gesponsert, das dürfen Sie alles behalten“, sagt Kosmetikerin Manuela Klingenstein, die das Seminar leitet. Die Frauen öffnen erst zaghaft, dann immer beschwingter Tiegel, Tuben und Puderdöschen. Es wird geschnuppert, getestet, geklönt und gelacht. „Das ist das Schöne an den Seminaren, dieser Austausch, dieses Zusammensein mit anderen, die Ähnliches durchmachen“, sagt Schmidt-Schweda.
Klingenstein erklärt, dass das Reinigungsgel steril sei, das sei wichtig bei entzündeter Haut. Und Sonnencreme: „Sie ist wirklich unerlässlich.“ Sie gibt Schminktipps: „Die Foundation immer von innen nach außen streichen und immer dran denken: Helle Farben heben hervor, dunkle setzen zurück.“ Essenziell sei der Concealer. Jana Weiß schaut fragend. „Der hilft gegen Augenringe und kaschiert die Nasolabialfalten - ein echter Zauberstift“, sagt Klingenstein.
Die Frauen lachen, auch Uta Moreno-Morales. „Wochenlang ging es nur um Krankheit, um Therapie, um Ängste. Es macht Spaß, sich mit dem eigenen Körper, seinem Aussehen wieder mal von einer leichten, femininen Seite zu befassen“, sagt die 58-Jährige, die ein malignes Melanom im Gesicht hatte. Haut musste transplantiert werden, die Narbe zieht sich vom linken Auge bis zum Ohrläppchen.
Eigentlich schminken sich die Frauen selbst, doch in diesem Fall macht Klingenstein eine Ausnahme. In ihrer Hand mischt sie verschiedene Töne von stark deckendem Make-up. Die Kosmetikerin klopft das Make-up vorsichtig auf die transplantierte Haut.
Die Frauen sind baff. „Wahnsinn, was das ausmacht“, sagt eine. Moreno-Morales blickt in den Kosmetikspiegel - und lächelt glücklich. Sie ist nicht die Einzige an diesem Nachmittag, die positiv überrascht ist. Jana Weiß, die Frau mit den kurzen grauen Haaren, die sich bisher noch nie geschminkt hat, kann den Blick nicht von ihrem eigenen Spiegelbild abwenden.
Den anderen geht es genauso. Fast scheinen den Frauen die Worte zu fehlen. Dann sagt eine: „Du siehst toll aus - viel frischer.“