sozial-Branche

Pflege

Dokumentation

Neue Wege zur Stärkung der häuslichen Pflege




Eine Frau pflegt ihren Ehemann.
epd-bild/Jürgen Blume
Der Verband "wir pflegen e. V." fordert in einem Positionspapier mehr Entlastung für pflegende Angehörige. Notwendig sei "eine flächendeckende, quartiersbezogene und bedarfsgerechte Versorgung". epd sozial dokumentiert die Kurzfassung des Papiers.

Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland wird bereits zu über 84 Prozent von An- und Zugehörigen geleistet. Tendenz steigend. Wachsender Pflegebedarf und akuter Mangel an Pflegekräften führen zunehmend zu gesundheitlicher Überforderung der Angehörigen. Der Notstand zwingt mehr und mehr Menschen, vor allem Frauen, ihre Berufstätigkeit zu reduzieren. Mit ernsthaften Folgen für ihre eigene wirtschaftliche Situation und die des Landes.

Politik und Zivilgesellschaft sind in der Verantwortung, endlich neue Wege zu gehen: den Ausbau von Pflegeunterstützung und -entlastung mehr als gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu verstehen. Pflegende Angehörige an der Planung und Gestaltung der Pflege zu beteiligen. Flexiblere Rahmenbedingungen zu schaffen und neue Brücken zu schlagen für eine flächendeckende, quartiersbezogene und bedarfsgerechte pflegerische Versorgung in unseren Kommunen. Der Bundesverband wir pflegen e.V. stellt in diesem Positionspapier neue Forderungen und Lösungswege zur Diskussion, die sich zwingend aus dem Pflegenotstand vieler Familien ergeben.

Pflegetriage abschaffen - Prioritäten neu setzen

Knappe Ressourcen führen zu einer schlechten Versorgung der Pflegebedürftigen. Mittlerweile haben wir eine Situation, die als „Pflegetriage“ bezeichnet wird. Leistungserbringer (Pflegedienste, Pflegeheime, Tagespflegeeinrichtungen) entscheiden darüber, wer, wann und wie versorgt wird, wobei ablauforganisatorische Kriterien und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Dadurch bleiben Schwerstpfegebedürfige mit hohem grundpfegerischen Bedarf of unterversorgt.

Vor dem Hintergrund, dass die knappen Ressourcen aufgrund des Fachkräftemangels kurzfristig nur begrenzt ausbaubar sind, müssen die Prioritäten der Versorgung so gesetzt werden, dass die Kompetenzen der Fachkräfte dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Der pflegebedürfige Mensch und seine Bedarfe müssen wieder im Mittelpunkt stehen. Das gilt auch für die Leistungsfähigkeit der pflegenden Angehörigen.

Bedarfsgerechte Angebotsstruktur

Damit vorhandenes Angebot in Anspruch genommen werden kann, muss dieses nicht nur quantitativ vorhanden sein, sondern auch qualitativ den Bedarfen und Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer pflegenden Angehörigen entsprechen. Die Angebote müssen quartiersnah, mit ausreichenden Öffnungszeiten für alle Altersgruppen und spezifische Krankheitsbilder infrastrukturell und personell ausgestaltet sein und eine flexible Nutzung von Einsatzzeiten und Leistungskomplexen ermöglichen.

Eine gute Pflege kann nur gelingen, wenn Angehörige, die diese Sorge- und Pflegearbeit übernehmen, weiterhin ihre Beziehungen und Bezüge im sozialen Umfeld aufrechterhalten können. Insbesondere darf eine fehlende Unterstützungsinfrastruktur nicht dazu führen, dass pflegende Angehörige ihre Berufstätigkeit aufgeben.

Um eine Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sicherzustellen, braucht es ein ausreichendes Angebot an bedarfsgerechten Unterstützungs- und Entlastungsleistungen, pflegesensible und diskriminierungsfreie Arbeitsbedingungen sowie eine sozialrechtliche Flankierung. Ein Rechtsanspruch auf Tagespfege ist wesentlich für die Vereinbarkeit von Pfege, Leben und Beruf, um die Planbarkeit von Lebens- und vor allem Berufsalltag zu ermöglichen.

Vereinfachte und bedarfsgerechte Inanspruchnahme

Damit die versicherungsrechtlichen Ansprüche der Pflegebedürftigen auch tatsächlich den Bedürfnissen entsprechend in der Pflege eingesetzt werden können, ist eine Flexibilisierung der Leistungskriterien unumgänglich, um eine vereinfachte und bedarfsgerechte Inanspruchnahme zu ermöglichen. Sofern bedarfsgerechte Sachleistungen nicht zur Verfügung stehen, ist eine finanzielle Leistung zur eigenverantwortlichen Organisation der Pflege zu gewährleisten. Die Unterschiedlichkeit von Pflegesituationen erfordert individuelle Gestaltungsmöglichkeiten des Pflegesettings. Dies erfordert eine Zusammenfassung aller Leistungsansprüche über die Grenzen der Leistungsbereiche hinweg in einem flexibel nutzbaren Gesamtbudget.

Selbstbestimmte Pflege muss die paternalistische Pflege ersetzen. Was gut ist für den Einzelnen, müssen der Einzelne und die Familien entscheiden. So individuell, wie heutige Lebensmodelle sind, muss häusliche Pflege organisiert werden können.

Kommunale Entwicklung von Entlastungsangeboten

Die eigenverantwortliche Gestaltung des Pflegesettings erfordert eine entsprechende Pflegeinfrastruktur, die ein Zusammenwirken von professioneller und informeller Pflege forciert. Dazu muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen für die Weiterentwicklung von Unterstützungsangeboten unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Initiativen in einer quartiersnahen Versorgung. Dies erfordert Investitionen in eine wachsende Infrastruktur flexibler Unterstützung. Die Kommunen, denen die Verantwortung für die pflegerische Daseinsvorsorge obliegt, brauchen Ressourcen und Rechte, um ehrenamtliche und wettbewerbliche Angebote steuern und koordinieren zu können.

Summiert man sämtliche Ansprüche auf, die pflegebedürfige Menschen an die Pflegeversicherung haben, so zeigt sich, dass die Summe der Ansprüche, die nicht abgerufen werden, mit 74 Milliarden Euro größer ist als die Summe der ausgezahlten Leistungen. Dies liegt nicht daran, dass die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen diese Leistungen nicht wollen, sondern daran, dass die Ansprüche nur als Sachleistung abgerufen werden können, entsprechende Angebote jedoch fehlen.

Wenige Angebote der Tagespflege

Gerade diejenigen Leistungen, die den pflegenden Angehörigen eine wirkliche Entlastung bringen könnten, können besonders selten in Anspruch genommen werden. Die Tagespflege wäre die wichtigste Entlastung von pflegenden Angehörigen, damit sie weiterhin berufstätig bleiben können. Solche Plätze stehen aber nur weniger als drei Prozent der pflegebedürftigen Menschen zur Verfügung. Dadurch können allein bei der Tagespflege Leistungsansprüche in Höhe von 40 Milliarden Euro nicht eingelöst werden. Müssen pflegende Angehörige deswegen die Erwerbstätigkeit aufgeben oder einschränken, kann Armut drohen. Zudem verschärf dies den Arbeitskräftemangel und schwächt die Wirtschafskraft der Gesellschaft.

Seit Jahren hält der Ausbau von Pflegeheimen und ambulanten Diensten mit der Zunahme der pflegebedürftigen Menschen nicht Schritt: Die Versorgungsquote der vollstationären Pflege sank seit 2013 von 28 Prozent auf 16 Prozent im Jahr 2021, die der ambulanten Dienste seit 2017 von 24 Prozent auf 21 Prozent im Jahr 2021. Der Fachkräftemangel verschärf diesen Prozess aktuell dramatisch. Mittlerweile bekommen gerade schwerstpflegebedürftige Menschen oft keinen Heimplatz oder werden von den ambulanten Diensten nicht oder nur unzureichend versorgt.

Reale Leistungen auf dem Niveau von 1996

Die Steigerungen der Leistungsausgaben der Sozialen Pflegeversicherung haben seit ihrer Einführung die Inflation faktisch so gut wie nie ausgeglichen. Über den gesamten Zeitraum haben die realen Pro-Kopf-Leistungsausgaben nur in den Jahren 2020 und 2021 das Niveau der Anfangsphase erreicht und sind 2022 wieder gesunken. Das Versprechen der Politik einer stetigen Verbesserung der Ansprüche läuf faktisch völlig ins Leere.

Der Anteil der pflegebedürftigen Menschen in häuslicher Versorgung steigt seit Jahren kontinuierlich an, entsprechend sinkt der Anteil der vollstationär Versorgten. Die Unterstützung durch die Pflegeversicherung ist für die pflegebedürftigen Menschen in der vollstationären Pflege deutlich höher. Eine immer größere Last der Pflege liegt allein bei den pflegenden Angehörigen mit der Folge einer enormen Überlastung, die deren wirtschaftliche Leistungskraft schwächt und auch Krankheitskosten in bislang kaum abschätzbarem Umfang verursacht.