Frankfurt a. M. (epd). Nach der Silvesternacht vor einem Jahr mit schweren Krawallen in Berlin entbrannte eine Debatte um die vermeintlich gestiegene Gewalt gegen Einsatzkräfte. Dieser Jahreswechsel blieb vergleichsweise ruhig. Der Jurist Tobias Singelnstein, der an der Goethe-Universität Frankfurt zu diesem Thema forscht, gibt zu bedenken, dass es wahrscheinlich nur so wirkt, als seien Polizisten oder Rettungspersonal heute mehr Gewalt ausgesetzt als früher. Die Fragen stellte Nils Sandrisser.
epd sozial: Herr Singelnstein, wer die gesellschaftliche Debatte verfolgt, bekommt leicht den Eindruck, die Gewalt gegen Einsatzkräfte würde immer schlimmer. Stimmt das?
Tobias Singelnstein: Das ist eine gute Frage, die sich gar nicht so leicht beantworten lässt. Das Thema ist in den vergangenen zehn, 15 Jahren innerhalb der Polizei breiter diskutiert und dann auch von der Politik und den Medien aufgegriffen worden. Das Bundeslagebild, das solche Taten erfasst, zeigt in der Tat über die vergangenen Jahre hinweg einen Anstieg der erfassten Fälle. Das ist aber nur das Hellfeld. Die Frage ist, ob wir tatsächlich einen Anstieg sehen oder ob lediglich mehr Fälle aus dem Dunkel- ins Hellfeld gewandert sind.
epd: Und ist das so?
Singelnstein: Für eine Aufhellung des Dunkelfeldes würde sprechen, dass es durch die Debatte eine größere Sensibilität für das Thema innerhalb der Polizei gibt. Das kann zu einer Zunahme der Anzeigebereitschaft führen, sodass mehr Fälle in der Statistik erfasst werden, während es tatsächlich aber nicht zu mehr Taten kommt.
epd: Das bedeutet: Früher war es schlicht normal, dass man im Einsatz auch mal eine abgeräumt bekommt, und heute nehmen Einsatzkräfte das nicht mehr so einfach hin?
Singelnstein: Das ist ein möglicher Effekt, ja. Wir werden ja als Gesellschaft insgesamt sensibler für Gewalt, und das gilt auch für die Polizei. Im Hinblick auf Gewaltdelikte insgesamt ist sich die Forschung weitgehend einig, dass die langfristige Zunahme im Hellfeld eher auf eine gestiegene Anzeigebereitschaft als auf eine Zunahme der Zahl der Taten zurückzuführen ist. Bezüglich der Gewalt gegen Einsatzkräfte gibt es verschiedene Untersuchungen, die ebenfalls ein differenzierteres Bild zeigen. Hinter das vermeintlich klare Bild aus dem Bundeslagebild, das einen deutlichen Anstieg zeigt, muss man also ein großes Fragezeichen setzen.
epd: Ehe man behauptet, dass früher alles besser war, müsste man auch erst einmal wissen, wie es früher war. Wie war es denn früher?
Singelnstein: Mein Eindruck ist, dass es früher deutlich drastischere Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bürgern gegeben hat, wenn wir etwa an Versammlungsgeschehen in den 1980er oder 1990er Jahren denken, zum Beispiel am 1. Mai. Damit hat die Wirklichkeit heute nicht mehr viel zu tun. Aber in der Polizei wird das anders wahrgenommen und debattiert.
epd: Das muss ja nicht schlecht sein. Dass man vor 20 Jahren über Gewalt nicht gesprochen hat, muss ja nicht bedeuten, dass man das heute auch nicht tun soll.
Singelnstein: Genau. Allerdings entsteht schnell ein falscher Eindruck, über was für Fälle wir hier eigentlich reden. In der öffentlichen Debatte geht es in der Regel um aufsehenerregende, schwere Ereignisse. Die Bilder in den Medien nehmen dann auch eher solche Fälle in den Fokus. Beispiel: Der ausgebrannte Bus in Berlin nach Silvester 2022. Oder wenn etwa jemand aus vollem Lauf mit gestrecktem Bein in einen Polizisten hineinspringt. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass diese schweren Fälle die Ausnahme sind. Die ganz große Masse der erfassten Fälle sind Widerstandshandlungen oder Tätlichkeiten. Dafür reicht es aus, einen Beamten zu schubsen oder passiv Widerstand zu leisten. Von den 2022 erfassten 42.000 Fällen sind rund 20.000 Widerstände und 16.000 tätliche Angriffe. Das sind niedrigschwellige Delikte, die auch sehr leichte Handlungen erfassen.
Ausgangspunkt dieser Debatte über Gewalt gegen Einsatzkräfte war eine starke Thematisierung durch die Polizeigewerkschaften. Das kann man als Reaktion darauf lesen, dass in den vergangenen 20 Jahren problematische Gewaltanwendungen durch die Polizei selbst stärker gesellschaftlich debattiert worden sind.
epd: Wollten die Polizeigewerkschaften etwa von der eigenen Gewalt ablenken?
Singelnstein: Ich glaube, in der Polizei ist jedenfalls das Bedürfnis entstanden, die eigene Perspektive einzubringen. Also klarzumachen, dass sie die Guten und auch Opfer von Gewalt sind. Das muss man nicht unbedingt als Ablenkung interpretieren, sondern das kann auch das Setzen eines Kontrapunktes sein. Das ist dann irgendwann von Politik und Medien aufgegriffen worden, denn es ist ja ein eingängiges Thema: Wenn Leute von Gewalt betroffen sind, die Leib und Leben einsetzen, um Konflikte zu klären und Schaden abzuwenden, findet das niemand gut.
epd: Da könnte es aber eine Grenze hin zur Instrumentalisierung geben. Sehen Sie diese Grenze in Teilen des politischen Spektrums überschritten?
Singelnstein: Es gibt natürlich immer so eine Wechselwirkung zwischen Politik und Polizei, und verschiedene Parteien versuchen, solche Themen für sich zu nutzen. So hat es zum Beispiel einen erheblichen Einfluss, wenn die Politik entscheidet, dass man ein Lagebild zu dem Thema braucht. Wenn das dann jährlich präsentiert wird, dann greifen Medien das Thema immer wieder auf, und dann ist es jedes Jahr in der öffentlichen Debatte und stellt dabei ein bestimmtes Bild von dem Problem her. Meistens wird dabei dann nicht so genau differenziert, was das für Zahlen sind und wofür sie stehen.
epd: Welche Rolle spielt eigentlich der Fachkräftemangel? Das Blaulichtmilieu zieht ja generell auch Menschen an, deren Motivation durchaus zweifelhaft ist. Die beispielsweise fasziniert sind von der Ausübung von Macht, und dementsprechend wenig deeskalierendes Verhalten zeigen. Müssen Polizei und Rettungsdienste nun auch vermehrt solche Menschen einstellen und zeigt sich das in der Gewaltstatistik?
Singelnstein: Es gibt natürlich Fälle, bei denen Einsatzkräfte einfach so angegriffen werden. Aber meistens handelt es sich doch eher um Situationen zwischen Bürgern und Polizei, die Schritt für Schritt eskalieren. Oft sind das komplexe, soziale Interaktionen, in denen ein Wort das andere gibt, und in denen im Nachhinein nicht selten darüber gestritten wird, wer welche Verantwortung für die Eskalation trägt. Aus Sicht der Polizei sind solche Situationen eigentlich immer auch ein Misserfolg, weil es eine Form gescheiterter Kommunikation ist. Auch wenn Kommunikation in der Ausbildung trainiert wird, bleibt es dabei, dass Leute in unterschiedlichem Maß gut kommunizieren können. Und es gibt in der Polizei Beamte, in der Regel sind es Männer, die häufig und schnell in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt sind.
Die Polizei hat in der jüngeren Vergangenheit eine deutliche Akademisierung und Professionalisierung erfahren. Das spricht eher dagegen, dass mehr solcher problematischen Leute eingestellt werden. Andererseits sind die Nachwuchssorgen bei der Polizei so groß, dass die eigentlich formulierten Einstellungsstandards in vielen Bundesländern erheblich abgesenkt worden sind.