Frankfurt a. M. (epd). Die nackten Zahlen lesen sich so: In der Behindertenhilfe der Diakonie bleiben 60 Prozent der offenen Fachkräftestellen im Schnitt länger als sechs Monate unbesetzt. Im September und Oktober befragt, sagten 53 Prozent der 147 teilnehmenden Träger, dass wegen Personalmangels Einrichtungsplätze nicht wieder besetzt wurden. 66 Prozent gaben an, auch Zeitarbeiter einzusetzen. Und dennoch müssen Anfragen von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen abgelehnt werden. Was heißt das in der Praxis? Wie gehen die Einrichtungen mit dem wachsenden Problem um, Fachkräfte und angelerntes Personal zu finden?
„Der Einsatz von Fremdpersonal ist an vielen Stellen fast schon normal“, stellt Sabine Ulrich, Pastorin und Geschäftsführerin der Rotenburger Werke, einem großen diakonischen Anbieter der Behindertenhilfe im nordöstlichen Niedersachsen, fest. Die Folgen des Personalmangels seien deutlich spürbar, so die Chefin von rund 2.000 Beschäftigten: „Plätze werden nicht wieder belegt. Zudem werden in neuen Angeboten Wohngruppen mit insgesamt rund 35 Plätzen nicht eröffnet.“
Doch man stemme sich dem Problem jenseits des Einsatzes von Leiharbeitern entgegen, beteuert Ulrich: Einstellung eines Recruiters, Personalkampagnen, Werbetrailer auf der Homepage, Gewinnung von Beschäftigten aus dem Ausland, Qualifizierung schon vorhandener Mitarbeiter. Man tue alles Mögliche, um die Lücken irgendwie zu schließen.
„Bethel.regional“ hat derzeit 146 offene Stellen ausgeschrieben. „Aktuell kompensieren wir fehlendes Personal über Zeitarbeit und das seit gut einem Jahr bestehende 'FlowTeam', das in Teilen von Bethel.regional eingesetzt wird“, berichtet Geschäftsführer Mark Weigand. Das FlowTeam ist ein ortsübergreifendes, multiprofessionelles Team aus Fach- und Unterstützungskräften, dem inzwischen 50 Mitarbeitende angehören. „Die Teammitglieder können ihre Arbeitszeit flexibel mitgestalten. Nach über einem Jahr fällt das Fazit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie auch von Bethel.regional als Arbeitgeber deutlich positiv aus“, so Weigand.
Die Kompensation von Personallücken mittels Zeitarbeitsfirmen stelle sich in mehrfacher Hinsicht als sehr schwierig dar, sagt der Geschäftsführer. Das betreffe sowohl die enorm hohen Kosten, die nicht refinanziert sind, als auch die benötigte Fachlichkeit im Bereich der Eingliederungshilfe.
„Die gesamte Behindertenhilfe hat mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen“, sagte die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Grundsätzlich bestehe in allen Feldern ein Mangel an Arbeits- und Fachkräften. „Am Beispiel Wohnen zeigt sich die Brisanz besonders deutlich, weil dort als unattraktiv geltende Rahmenbedingungen vorherrschen: Schichtdienst und Arbeit zu ungünstigen Zeiten, auch an Wochenenden. Häufig gibt es nur Teilzeitstellen, mobiles Arbeiten oder Arbeitszeitflexibilität ist nicht oder schwer möglich“, erläuterte Nicklas-Faust.
Zeitnah sei es schwierig, Abhilfe zu schaffen, räumte sie ein. „Eine leichtere Anerkennung internationaler Bildungsabschlüsse wäre wichtig, weil wir regelmäßig Rückmeldungen aus der Praxis erhalten, dass sowohl eine Einmündung in die Ausbildung als auch in die Berufstätigkeit sehr oft an langwierigen Prüfungsverfahren scheitert“, sagte Nicklas-Faust. Zudem müssten die Ausbildungsvergütungen steigen und das Schulgeld abgeschafft werden.
Hubert Vornholt, Direktor des Franz Sales-Hauses in Essen und Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, beklagte gegenüber dem epd, dass auch Assistenz- und Hilfskräfte schwer zu finden seien. „Die Mehrbelastungen der Mitarbeitenden, auch bedingt durch die Pandemie, immer höhere Qualitätsanforderungen sowie Schicht-, Teil- und Wochenenddienste, führen dazu, dass Personal der Eingliederungshilfe zunehmend in attraktivere Bereiche des Sozial- und Gesundheitswesens abwandert“, skizzierte Vornholt die Gründe.
Die Folgen seien gravierend: „Der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe ist nicht zu verwirklichen, wenn das Personal nicht verfügbar ist beziehungsweise nicht gewonnen werden kann. Der akute Personalmangel verhindert sehr häufig, dass Menschen mit Behinderungen die Unterstützungsleistungen erhalten, die sie benötigen.“
Auch Vornholt forderte, die Anwerbung von Personal aus dem Ausland zu verstärken - wenn nur die Bürokratie nicht wäre: „Es vergeht in Deutschland viel zu viel Zeit, in der ausländische Fachkräfte als Nichtfachkräfte tätig sind - und auch nur eine niedrigere Entlohnung erhalten“, so der Fachmann. Das mache die Anwerbung zusätzlich unattraktiv. „Hilfreich wäre auch eine Fachkräfte-Offensive der Bundesregierung zur Steigerung der Attraktivität der Berufe in der Eingliederungshilfe.“ In diese Richtung denkt auch Frank Stefan, Vorstand der Diakonie Kork: „Der Beruf Pflege und Betreuung kommt in den Medien immer nur im Kontext mit Problemen vor. Das muss sich ändern.“
Christian Kranjčić, Prokurist der Pädagogischen Einrichtungen des Augustinums in München, berichtete, man habe das Platzangebot in der heilpädagogischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen bereits zurückgefahren. Theoretisch könne man 226 Plätze an zwei Standorten belegen. „Tatsächlich haben wir unser Angebot nur auf 209 Plätze ausgelegt, weil wir davon ausgehen, die für die größere Platzzahl notwendigen Personalstellen absehbar nicht besetzen zu können. Schon seit längerem sind aber auch von diesen Kapazitäten nur 181 Plätze belegt und zwei Gruppen geschlossen, weil das notwendige Fachpersonal fehlt“, so Kranjčić.
In einem anderen Arbeitsfeld, den Augustinum-Wohnstätten für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, werden im Großraum München 250 Bewohnerinnen und Bewohner stationär betreut. Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, „mussten wir 2023 in sehr hohem Umfang Mitarbeiter über Zeitarbeitsfirmen einsetzen“, sagte der Prokurist. Problem: Die Mehrkosten wurden in der Vergangenheit nicht refinanziert, darüber werde mit dem Leistungsträger verhandelt.
Auch das Augustinum baut seit Jahren das Recruiting stetig aus. „Wir bemühen uns um Mitarbeiter aus dem Ausland, was aber mit erheblichen Anstrengungen verbunden ist“, erläuterte Kranjčić. Denn die neuen Kollegen müssten in die Teams integriert werden, Hilfe bei der Wohnungssuche, beim Spracherwerb oder bei ganz alltäglichen kulturellen Fragen bekommen. Auch bemühe man sich, Mitarbeitende von der Hilfskraft zur Fachkraft zu qualifizieren. Doch das gehe oft aufgrund der familiären Umstände oft nur berufsbegleitend und eben nicht in Vollzeit.
Die Diakonie Kork setzt ebenfalls verstärkt auf das Recruiting ausländischen Personals. Auch müsse man deutlich mehr ausbilden, fordert Vorstand Stefan. Die Fachkraftquoten abzusenken, hält er zwar für bedingt möglich, doch das könne auch zu nicht gewollten Abstrichen bei der Qualität der Leistungen führen. Nach seinen Angaben vergeht oft bis zu einem Jahr, wenn eine Stelle neu zu besetzen ist. Die Folge seien verzögerte Neuaufnahmen bei dem Träger, einem von sieben Epilepsiezentren in Deutschland. Es zeichne sich zudem ab, dass künftig ein ganzes Haus geschlossen werden müsse.
Mark Weigand, Geschäftsführer von Bethel.regional, blickt mit Sorgen in die Zukunft. Er rechnet mit einer weiteren Verschärfung der Personallage bis Mitte der 2030er Jahre. „Wir werden uns diesem Thema weiter umfassend widmen müssen und es wird gravierende Auswirkungen auf die Praxis der Leistungserbringung in der Eingliederungshilfe haben.“ Einschnitte bei der Fachkraftquote sieht auch er kritisch: „Aus meiner Sicht benötigen wir zukünftig eine ressourcenschonende Angebotsentwicklung, die nicht unmittelbar mit der Absenkung der Qualität einhergeht.“