Haltern am See, Berlin (epd). Vor dem Fenster hängen Weihnachtssterne, Kerzen brennen, auf dem Sims über dem Kamin thront die Figur eines kleinen Nikolaus. Davor steht Kerstin Schöppner und erzählt mit kräftiger Stimme eine Weihnachtsgeschichte: „Es geht um einen Esel, in einem Stall in Bethlehem“, beginnt sie und unterstreicht ihre Erzählungen mit den Händen. Im Altenwohnhaus St. Anna in Haltern am See steht vor Weihnachten Erzählen mit Musik auf dem Programm. Für die musikalische Begleitung sorgt Hans-Jürgen Lehmacher, der Weihnachtslieder anstimmt und dazu Gitarre spielt.
Mit Veranstaltungen wie diesen sollen die Bewohnerinnen und Bewohner aktiviert und angeregt werden, wie Geschäftsführer und Hausleiter Peter Künstler sagt: „Auch beim Sommerfest ging es diesmal um Märchen.“ Hinzu komme: Das gemeinsame Singen wecke bei vielen alten Menschen Erinnerungen an die Jugend und Kindheit. „Sie werden auf eine gedankliche Reise mitgenommen“, sagt Künstler.
Bereits 2015 hat die Studie „Es war einmal ... Märchen und Demenz“ gezeigt, dass „professionelles, regelmäßiges und strukturiertes Märchenerzählen Menschen mit Demenz und herausfordernden Verhaltensweisen Wohlbefinden ermöglicht und Verhaltenskompetenzen aktiviert“, wie es im Abschlussbericht heißt. Die Studie entstand an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit.
Die Untersuchung bezieht sich auf das bundesweite Projekt „Märchen und Demenz“, das bereits seit einigen Jahren in zahlreichen Bundesländern läuft und von der Organisation „Märchenland“ in Berlin umgesetzt und betreut wird. „Märchen sind Pfade der Erinnerung“, sagt Geschäftsführerin Silke Fischer.
„Märchenland“ bildet sogenannte Demenzerzähler aus, die bis zu achtmal pro Woche in ein Pflege- und Altenheim gehen, um dort Märchen frei und ohne Buch zu erzählen. „Dabei ist das partizipative Element sehr wichtig, da dadurch die demenziell veränderten Menschen direkt angesprochen, mitgenommen und kognitiv stimuliert werden“, sagt Fischer.
Fachkräfte in den Einrichtungen würden zu Märchenvorlesern fortgebildet. „Die Teilnehmer der Schulung lernen, professionell mit Sprache umzugehen und wie man mitreißend vorlesen kann, um dieses spezielle Publikum zu erreichen.“ Bislang sei die Organisation in rund 600 Einrichtungen aktiv. Der Schwerpunkt liege in Süd- und Ostdeutschland, da dort die Kosten meist von den örtlichen Kranken- und Pflegekassen übernommen würden.
Auch Kerstin Schöppner erzählt in Haltern am See ihre Geschichten ohne Buch, spricht die Menschen an, unterstützt die Erzählung mit Gesten und Blicken. Sie gehört nicht zum Projekt „Märchen und Demenz“, sondern hat eine Ausbildung bei der „Europäischen Märchengesellschaft“ gemacht. Im St. Anna-Wohnhaus kommt das Programm aus Geschichten und Weihnachtsliedern gut an: Bei „Stille Nacht, Heilige Nacht“ singen viele der Senioren und Seniorinnen mit. Er habe während seiner Auftritte schon erlebt, dass demente Menschen, die kaum noch hätten sprechen könne, plötzlich mitgesungen hätten, erzählt Musiker Lehmacher: „Das ist sehr ergreifend für uns, wenn wir Erinnerungen wecken.“
Das gemeinsame Singen und das Erzählen hat auch Klara Fehrmann gefallen. Die 90-Jährige lebt seit einigen Jahren im Altenwohnhaus St. Anna. „Einige Lieder hat er moderner gespielt“, ist ihr aufgefallen. Märchen wie „Schneewittchen“ oder „Aschenputtel“ höre sie eher selten, sagt Fehrmann. Aber natürlich kenne sie viele Geschichten noch aus der Kindheit.