Frankfurt a. M. (epd). Es ist Abend, als Sabine Falt (Name geändert) sich entscheidet zu fliehen. Sie packt ihre beiden Kinder ins Auto und verlässt ihre Wohnung in Nordhessen. Ihr arbeitsloser Lebensgefährte ist für einen Moment nicht zu Hause. „Das ist die einzige Chance. Eine andere gibt es nicht“, habe sie gedacht, wie sie später erzählt. Sie hat nur einen Wunsch: endlich weg von ihrem gewalttätigen Partner.
Wieder einmal habe er ihr an jenem Tag pausenlos Vorwürfe gemacht, sie beschimpft, den Topf vom Mittagessen auf ihrem Bett ausgeschüttet: „Er ist vollkommen ausgerastet.“ Nach neun Jahren in einer unglücklichen und demütigenden Beziehung sucht Sabine Falt mit ihrem 14-jährigen Sohn Max und ihrer fünfjährigen Tochter Azra (Namen geändert) das Weite: „Wir sind einfach losgefahren.“ Sie ruft eine Freundin an und übernachtet mit ihren Kindern bei ihr. Danach bekommt sie sofort einen Platz in einem Frauenhaus und ist damit erst einmal in Sicherheit.
Im vergangenen Jahr suchten nach Schätzungen des Vereins Frauenhauskoordinierung etwa 14.400 Frauen mit 16.600 Kindern Schutz in einem der rund 400 Frauenhäuser in Deutschland. Das sind im Schnitt 40 Frauen pro Tag. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat für das vergangene Jahr 157.800 Fälle von Partnerschaftsgewalt erfasst - 9,1 Prozent mehr als im Vorjahr.
Nach Angaben des Vereins fehlen Tausende Frauenhausplätze: Mindestens 21.000 Plätze würden benötigt, die Statistik weise aber nur 6.800 Plätze aus.
Das Frauenhaus der Caritas in Bad Schwalbach, in das Sabine Falt floh, bietet sechs Frauen und ihren Kindern Platz. „Die Frauen und ihre Kinder, die zu uns kommen, sind psychisch sehr belastet“, sagt Ilse Gießer, die Leiterin der Einrichtung, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Wir versuchen, den Frauen zunächst Halt zu geben.“
Auf den beiden Etagen des Hauses wohnen jeweils drei Frauen und ihre Kinder, „wie in einer Wohngemeinschaft“, sagt Gießer. Jede Familie hat ihren eigenen Wohnbereich, es gibt Gemeinschaftsräume. „Wir machen Gruppenarbeit. Einmal in der Woche gibt es ein gemeinsames Frühstück.“ Die meisten Frauen sind laut Gießer zwischen 20 und 35 Jahren alt. Der Anteil der Frauen mit Migrationshintergrund sei in den vergangenen Jahren von etwa einem Drittel auf mehr als die Hälfte gestiegen.
Kaum war Sabine Falt im Frauenhaus in Bad Schwalbach angekommen, da habe sich schon der Anwalt ihres Partners wegen des Sorgerechts für ihre gemeinsame Tochter gemeldet, sagt sie. Ihrem Partner wurde vom Gericht ein Umgangsrecht zugesprochen. Wegen des Umgangs ihres Ex mit der gemeinsamen Tochter habe sie sich keine Sorgen machen müssen, sagt Falt. Zu ihr sei er immer lieb gewesen.
Auch zu ihr selbst sei ihr Freund, den sie im Internet kennengelernt hatte, am Anfang der Beziehung „total lieb, fürsorglich und nett“ gewesen, berichtet Sabine Falt. Sie war deshalb auch damit einverstanden, dass er schon sehr bald, nachdem sie sich kennengelernt hatten, zu ihr zog - „ins gemachte Nest“, wie sie heute bitter sagt.
Schon bald nach dem Einzug habe er ständig an ihr herumgemeckert, sei wegen Kleinigkeiten ausgerastet. Sie habe langjährige Freundinnen verloren, weil diese nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollten. Schließlich schlug Sabine Falt ihrem Lebensgefährten vor, gemeinsam die Region zu verlassen. „Ich wollte mit ihm nicht in meinem Umfeld bleiben.“ Zugleich hoffte sie auf einen Neuanfang.
Doch es ging gründlich schief. Er kündigte bald seinen Job und saß nur noch im Wohnzimmer auf dem Sofa, wie sie erzählt. Die Stimmung war total angespannt. „Du wusstest nicht, wie du dich am besten verhältst, damit es nicht eskaliert. Ich lief in unserer Wohnung den ganzen Tag wie auf rohen Eiern.“ Der permanente Stress habe bei ihr zu immer wiederkehrenden Attacken höllischer Kopfschmerzen geführt.
Die Wiesbadener Politikwissenschaftlerin Regina-Maria Dackweiler, die unter anderem zu Gewalt in der Geschlechterbeziehung forscht, sagte dem epd: „Herabsetzungen und gezielte Demütigungen wie 'Wie siehst du denn heute wieder aus' können körperlicher Gewalt vorausgehen.“ Täter zeigten zwischendurch auch Reue und versprächen, dass sie nie wieder Gewalt ausüben würden. „Es entsteht eine Dynamik von Kuss und Tritt.“
Nach zehn Monaten verließ Sabine Falt das Frauenhaus und trat eine Stelle als Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte an. Es war ein Neuanfang als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern.
Der Notaufenthalt im Frauenhaus liegt jetzt acht Jahre zurück. Vor ihrem früheren Partner hat Sabine Falt keine Angst mehr. Er habe Deutschland verlassen und lebe im Land seiner Vorfahren, der Türkei. Seine Tochter rufe er nur noch selten an.
Die 13-jährige Azra geht zur Schule, der 22-jährige Max studiert. Alles scheint in guter Ordnung. Sabine Falt sagt aber: „Früher habe ich gelebt, heute funktioniere ich.“ Die plötzlich und unvermittelt auftretenden Kopfschmerzattacken plagten sie noch immer. Demnächst wird die 48-Jährige zum ersten Mal in ihrem Leben zur Kur fahren.