Münster (epd). Die Conterganstiftung kann im Einzelfall verpflichtet werden, Anträge auf Leistungen für mutmaßlich durch das Medikament entstandene Fehlbildungen erneut zu prüfen. Bei der Entscheidung über den Antrag eines 1961 geborenen Klägers sei das vorgeschriebenen Verfahren nicht eingehalten worden, erklärte das Oberverwaltungsgericht für Nordrhein-Westfalen am 23. November in Münster.
Menschen mit Fehlbildungen, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Aachener Firma Grünenthal durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, haben nach dem Conterganstiftungsgesetz einen Anspruch auf Leistungen. Ob ein Schadensfall nach dem Gesetz vorliegt, entscheidet eine Medizinische Kommission. Dieser gehören medizinische Sachverständige verschiedener Fachbereiche an, den Vorsitz hat eine Person mit der Befähigung zum Richteramt. Der Vorstand der Conterganstiftung setzt daraufhin die Leistungen fest.
Die Stiftung hatte dem Kläger keine Leistungen gewährt. Das Verwaltungsgericht Köln hatte die Klage des Betroffenen gegen die Entscheidung der Kommission zunächst abgewiesen. (AZ: 7 K 2730/17) Vor dem OVG hatte er nun teilweise Erfolg. „Es wurde keine Entscheidung der Kommission als Gremium eingeholt, sondern nur ein Teil ihrer Mitglieder (8 von 22) mit dem Fall befasst“, erklärte das Oberverwaltungsgericht. Die Kommission müsse sich nun in korrekter Besetzung erneut mit dem Antrag beschäftigen.
Laut Gericht hatte der 2011 die Festsetzung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz wegen mehrerer Körperschäden beantragt. Seine Mutter habe während ihrer Schwangerschaft mit ihm das Mittel Contergan eingenommen. Die Conterganstiftung hatte seinen Antrag abgelehnt und den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Sie stützte sich dabei laut Gericht auf die Einschätzung einzelner Mitglieder aus der Medizinischen Kommission. Diese seien der Ansicht gewesen, dass die Schädigungen des Klägers nicht typisch für einen Schaden durch den Contergan-Wirkstoff Thalidomid seien.
Ein Teil der von dem Kläger geltend gemachten Schädigungen könne nicht mit der Einnahme von Contergan in Verbindung gebracht werden, betonte das Gericht. Denn diese beruhten nicht auf vor der Geburt entstandenen oder angelegten Fehlbildungen. Bei anderen Schädigungen habe der Senat des Gerichts einen Zusammenhang mit einer Thalidomideinnahme der Mutter allerdings nicht abschließend feststellen können. Deshalb müsse die Stiftung den Fall noch einmal prüfen. Eine Revision ließ das Gericht zu.
Das Pharmaunternehmen Grünenthal aus Stolberg bei Aachen hatte seit 1957 das rezeptfreie Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan vertrieben. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Präparat ungeborene Kinder massiv schädigt, wenn es in der frühen Schwangerschaft eingenommen wird. Allein in Deutschland kamen durch das Präparat nach Angaben des Bundesverbands Contergangeschädigter rund 5.000 Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen wie verkürzten Gliedmaßen oder geschädigten inneren Organen auf die Welt. Es war der Wirkstoff Thalidomid, der Schädigungen beim Ungeborenen hervorruft. Schon eine einzige Tablette reichte dafür aus. 40 Prozent der Kinder starben noch im Säuglingsalter. Ende 1961 wurde das Mittel vom Markt genommen.
Az.: 16 A 1884/22