Karlsruhe, München (epd). Schulabschlusszeugnisse dürfen bei behinderten Schülerinnen und Schülern Bemerkungen über nicht bewertete Rechtschreibleistungen enthalten. Es ist allerdings verfassungswidrig, wenn sich solch ein Zeugnishinweis ausschließlich bei Schülern mit einer Lese-Rechtschreibstörung findet und nicht bei Schülern, bei denen aus anderen Gründen die Rechtschreibleistung nicht in die Benotung eingeflossen ist, urteilte am 22. November das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Damit hatte die Verfassungsbeschwerde von drei aus Bayern stammenden Abiturienten mit einer Legasthenie Erfolg.
Bayern hat für legasthene Schüler einen Nachteilsausgleich für ihre Behinderung geschaffen. Seit 2010 sieht ein Erlass vor, dass Schüler mit einer ärztlich festgestellten Lese-Rechtschreibschwäche einen sogenannten „Notenschutz“ beantragen können. Dabei fließen Rechtschreibfehler nicht in die Benotung ein. Im Abiturzeugnis findet sich dann bei legasthenen Schülern ein Vermerk, dass ein Notenschutz gewährt und die Rechtschreibleistungen in der Benotung nicht berücksichtigt werden.
Im Streitfall fühlten sich die klagenden drei Gymnasiasten aus Bayern wegen des Zeugnishinweises über den Notenschutz wegen ihrer Behinderung diskriminiert. Sie befürchteten etwa, dass sie bei Bewerbungen deshalb direkt von Arbeitgebern aussortiert und damit benachteiligt würden.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) entschied am 28. Mai 2014, dass ohne eine gesetzliche Grundlage Bemerkungen im Abiturzeugnis über eine Legasthenie oder einem Notenschutz nicht zulässig sind.
Das Bundesverwaltungsgericht hielt mit Urteil vom 29. Juli 2015 das Vorgehen Bayerns dagegen für rechtmäßig. Könnten Schüler wegen ihrer Legasthenie eine weniger strenge Benotung beanspruchen, dürfe im Zeugnis vermerkt werden, welche Leistungen nicht bewertet wurden. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Lese-Rechtschreibschwäche sei im Zeugnis zwar nicht erlaubt, zulässig sei aber ein Hinweis auf den Notenschutz.
Die Abiturienten legten gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde ein. Der Hinweis auf den Notenschutz im Abiturzeugnis sei faktisch ein Hinweis, dass eine Legasthenie bestehe.
Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass Legasthenie eine Behinderung sei. Einerseits greife dann die „Pflicht zur Inklusion“ von behinderten Menschen, die „auch bei Schulabschlussprüfungen zu beachten“ sei. Andererseits diene das Abiturzeugnis als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dem „mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihrer schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf“ zu ermöglichen. Der Gesetzgeber werde diesem Ziel gerecht, wenn „alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen“.
Es sei daher nicht zu beanstanden, wenn auf eine Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen - hier die Rechtschreibung - im Zeugnis hingewiesen werde. Wäre dies nicht erkennbar, würde das Zeugnis Leistungen bescheinigen, die tatsächlich nicht erbracht wurden. Zudem gebe es zahlreiche Berufe, für die eine eigenständige „orthografische Kompetenz“ notwendig sei. Arbeitgeber müssten sich daher auf ein „wahres“ Zeugnis verlassen können.
Dennoch sei die 2010 in Bayern geltende frühere Verwaltungspraxis verfassungswidrig. Sie stelle eine unzumutbare Schlechterstellung der Beschwerdeführer dar, stellten die Karlsruher Richter fest. Denn der Notenschutz-Vermerk im Abiturzeugnis wurde ausschließlich bei legasthenen Schülern vorgenommen. Bei anders behinderten Schülern, bei denen die Rechtschreibleistung ebenfalls nicht in der Benotung berücksichtigt wurde, sei dies nicht geschehen. Gleiches galt für Schüler in naturwissenschaftlichen Fächern, bei denen Lehrer die Rechtschreibleistungen ausnahmsweise nicht benotet haben. Die Beschwerdeführer hätten im konkreten Fall daher Anspruch auf Streichung des Notenschutz-Vermerks.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Inklusion behinderter und damit auch von legasthenen Schülern betont hat, gilt dies nicht grenzenlos. Zwar sehen die gesetzlichen Bestimmungen unter bestimmten Voraussetzungen eine Eingliederungshilfe in Form einer außerschulischen Förderung auf Kosten des Jugendamtes oder des Jobcenters vor. Schafft ein legasthener Schüler die Deutsch-Note „gut“, gibt es nach einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Stuttgart vom 17. Mai 2018 aber keine Zuschüsse zu einem Einzelförderunterricht. So müsse ein Jobcenter nur die „angemessene Lernförderung“ gewährleisten. Für eine „2“ in Deutsch benötige der Schüler aber keine Förderung.
Az.: 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15 und 1 BvR 2579/15 (Bundesverfassungsgericht)
Az.: 7 B 14.22 und 7 B 14.23 (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof)
AZ: 6 C 33.14 und 6 C 35/14 (Bundesverwaltungsgericht)
Az.: L 7 AS 2087/17 (Landessozialgericht Stuttgart)