sozial-Politik

Armut

Umsetzung der Kindergrundsicherung wird sich wohl verzögern




Ausgabe von Mittagessen in der Berliner Arche
epd-bild/Christian Ditsch
Das größte sozialpolitische Projekt der Ampel-Koalition, die Einführung einer Kindergrundsicherung, steht weiter unter starker Kritik. Die erste Bundestags-Anhörung von Expertinnen und Experten offenbarte, wie schwierig die Umsetzung werden wird - und dass sie wohl mehr zeitlichen Vorlauf benötigt.

Berlin (epd). Der Zeitplan für die Einführung der Kindergrundsicherung wackelt. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hält ihn nicht mehr für realistisch. In der ersten Sachverständigen-Anhörung des Bundestags am 13. November in Berlin wurde zudem von Kommunalvertretern gewarnt, dass die Hilfen für bedürftige Kinder komplizierter statt einfacher werden könnten. Sozialverbände kritisierten, die Leistungen fielen in der Regel künftig nicht höher aus als heute. Das richtige Ziel, die Kinderarmut zu senken, drohe verfehlt zu werden.

BA-Vorständin Vanessa Ahuja betonte ausdrücklich, ihre Behörde wolle zum Gelingen der Kindergrundsicherung beitragen: „Wir können die Aufgabe stemmen, brauchen aber Zeit“, sagte sie. Zum geplanten Einführungstermin am 1. Januar 2025 sei aber „die Umsetzung nicht realisierbar“, sagte Ahuja. Die BA-Spitze plädiert für eine stufenweise Einführung ab Juli 2025. Bei der Bundesagentur sind die Familienkassen angesiedelt, die das Kindergeld und den Kinderzuschlag auszahlen. Sie sollen zu Familienservice-Stellen für die Verwaltung der Kindergrundsicherung ausgebaut werden.

Tausende neue Stellen nötig

Ahuja zufolge sind für die Umsetzung 5.355 zusätzliche Vollzeitstellen nötig. Außerdem seien umfassende IT-Anpassungen erforderlich, für die „die Zeitschiene zur Umsetzung nur grob bestimmt werden“ könne. Erst wenn das Gesetz von Bundestag und Bundesrat verabschiedet sei, könne ihre Behörde in die konkrete Umsetzung einsteigen.

Der Bundestag hatte in der vergangenen Woche mit den Beratungen über den Gesetzentwurf von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) begonnen. Der Entwurf sieht vor, dass das heutige Kindergeld, der Kinderzuschlag für Familien mit wenig Einkommen und die Leistungen für Kinder im Bürgergeld oder in der Sozialhilfe zusammengefasst werden. Die Beantragung soll vereinfacht und digitalisiert werden.

Die Einführung der Kindergrundsicherung ist zum 1. Januar 2025 geplant. Im Einführungsjahr stehen 2,4 Milliarden Euro an Bundesmitteln zur Verfügung. Davon sind den Angaben zufolge rund 400 Millionen Euro für den Umbau der Verwaltung vorgesehen; die BA geht davon aus, dass dieses Geld nicht reichen wird. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt an oder unter der Armutsgrenze, da seine Eltern weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben.

Alle drei kommunalen Spitzenverbände, der Städtetag, der Landkreistag und der Städte- und Gemeindebund, kritisierten, für die Verwaltung der Kindergrundsicherung würden neue Behörden und damit Parallelstrukturen geschaffen, statt die vorhandenen Anlaufstellen zu stärken. Viele Familien müssten künftig mindestens zu zwei, möglicherweise zu vier verschiedenen Stellen. Dies würde rund 1,9 Millionen Kinder betreffen, deren Familien auf Bürgergeld angewiesen sind. Heute würden sie umfassend in den lokalen Jobcentern betreut, sagte Irene Vorholz vom Deutschen Landkreistag.

Sozialverbände sehen zentrales Ziel der Reform als verfehlt an

Aus Sicht der Sozialverbände verfehlt die Kindergrundsicherung der Ampel-Koalition ihr zentrales Ziel, die Kinderarmut zu senken. Der Sozialverband VdK, der Paritätische Gesamtverband und die AWO forderten eine Erhöhung des Existenzminimums für Kinder. VdK-Chefin Verena Bentele begrüßte die Reform dennoch als richtigen Schritt zur Armutsbekämpfung und Entstigmatisierung von bedürftigen Familien. Sie forderte den Bundestag auf, sicherzustellen, dass sie sich künftig wirklich nur an eine Stelle wenden müssten. Der AWO-Vertreter Alexander Nöhring nannte es „fatal“, dass Kinder von Asylbewerberinnen und -bewerbern keine Kindergrundsicherung bekommen sollen.

Bernd Siggelkow, Vorstand der Kinderstiftung „Arche“, verwies darauf, dass es armen Kindern nicht nur an Geld mangele, sondern auch an Ressourcen, auf die sie zurückgreifen können, unter anderem auf ein ganz anders aufgestelltes Bildungssystem. Auch müsse sichergestellt werden, dass die Leistungen bei den Kindern direkt ankommen, lautete sein Appell an die Abgeordneten.

Die evangelische arbeitsgemeinschaft familie (eaf) kritisierte den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung als vertane Chance auf eine auskömmliche finanzielle Absicherung für soziale Teilhabe und ein gutes Aufwachsen aller Kinder. „Ein vorurteilsfreier Blick auf die Ursachen von Armut fehlt dieser Reform aus unserer Sicht ebenso wie der politische Wille, ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, um Kinder und Jugendliche deutlich besser als bisher zu unterstützen“, so Martin Bujard, Präsident der eaf. „Wir haben uns eine weit umfassendere Reform gewünscht. Nun geht es darum, mit dem vorgelegten Entwurf konstruktiv umzugehen.“

„Teilhabebetrag und Sofortzuschlag erhöhen“

Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf) mahnte erhebliche Nachbesserungen am Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren an. „Ein vorurteilsfreier Blick auf die Ursachen von Armut fehlt dieser Reform aus unserer Sicht ebenso wie der politische Wille, ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, um Kinder und Jugendliche deutlich besser als bisher zu unterstützen“, so Martin Bujard, Präsident der eaf. „Wir haben uns eine weit umfassendere Reform gewünscht. Nun geht es darum, mit dem vorgelegten Entwurf konstruktiv umzugehen.“ Er forderte unter anderem, den Zusatzbetrag pauschal um 15 Euro Teilhabebetrag und 20 Euro Sofortzuschlag zu erhöhen. Mit Blick auf die Lage von Allerinerziehenden sagte Bujard, die Ermittlung der Höhe von Unterhaltsvorschüssen müsse geändert werden. Dieser sollte künftig errechnet werden, indem vom Mindestunterhalt nur die Hälfte des Kindergeldes beziehungsweise des Kinder¬garantiebetrages abgezogen wird.

Professorin Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des WSI der Hans-Böckler-Stiftung, sprach von einem Schritt in die richtige Richtung. Aber: „Die aktuell genannten Vorhaben entsprechen eher einer Verwaltungsreform als einer echten Kindergrundsicherung.“ Entgegen der Ankündigung im Koalitionsvertrag sei eine angemessene und wissenschaftsbasierte Neuberechnung des sozio-kulturellen Existenzminimums von Kindern nicht vorgenommen worden, beklagte die Expertin. „Damit sind die gewährten Leistungen auch im neuen Instrument nicht armutsfest.“

Gegen Kürzungen bei Kindern von Asylbewerbern

Auch wurde nach ihren Worten die Privilegierung Kinder besserverdienender Eltern durch den Kinderfreibetrag und die Schlechterstellung von Kindern im Asylbewerberleistungsbezug nicht aufgehoben. Es handele sich also nicht um eine Leistung für alle Kinder. „Skandalös und für mich völlig unverständlich ist die Kürzung der Leistung von Kindern um 20 Euro, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz enthalten. Diese Gruppe gehört ohnehin schon zu den ärmsten der armen Kinder“, sagte Kohlrausch.

Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter erklärte, Alleinerziehende und ihre Kinder hätten mit 42 Prozent das höchste Armutsrisiko aller Familienformen. Deshalb dürfe es für sie keinerlei Verschlechterungen geben. Wo sie drohten, müsse der Entwurf noch geändert werden. So dürfe Alleinerziehenden für die Tage, die das Kind beim Partner ist, die Kindergrundsicherung nicht gekürzt werden.

Bettina Markmeyer, Dirk Baas