sozial-Branche

Regierungsbildung

Interview

Bündnis-Sprecher: Eine "Kindergrundsicherung light" wird es nicht geben




Jens M. Schubert
epd-bild/Kay Herschelmann
Die Koalitionsgespräche von SPD, Grünen und FDP beginnen. Thema wird auch die Einführung einer Kindergrundsicherung sein, deren Details noch offen sind. Jens M. Schubert, Sprecher des Bündnisses Kindergrundsicherung, ist überzeugt: Eine bedarfsdeckende Leistung werde kommen, sagt er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Jens M. Schubert verweist darauf, dass es nicht allein darum gehe, verschiedene Sozialleistungen für Familien zu bündeln. Es brauche eine ganz neue Leistung. „Dafür bedarf es insbesondere einer Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums.“ Bislang würden die Bedarfe unrealistisch niedrig berechnet: „Sie müssen neu erhoben werden und insbesondere der Bereich Bildung und Teilhabe muss mehr zu Buche schlagen“, so Schubert. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Schubert, Sie sprechen mit Blick auf die Entscheidung der drei möglichen Regierungsparteien zur Einführung einer Kindergrundsicherung von einem Bekenntnis von historischer Tragweite. Ist das nicht zu optimistisch, wo noch gar nicht klar ist, wie diese Reform im Detail aussehen soll?

Jens M. Schubert: Verbände, Aktivistinnen und Aktivisten und Gewerkschaften haben seit Jahren dafür gekämpft, eine politische Mehrheit für die Kindergrundsicherung zu gewinnen. Jetzt ist diese erstmals in einem Sondierungspapier dreier mutmaßlicher zukünftiger Regierungspartner genannt. Natürlich ist das ein großer Schritt nach vorne.

epd: Aber?

Schubert: Wir haben auch gesagt: Der abzusehende Erfolg ist an Bedingungen geknüpft. Die Kindergrundsicherung muss konkret so ausgestaltet sein, dass alle relevanten sozial- und steuerrechtlichen Leistungen in ihr zusammengefasst sind. Nur dann werden armutsbetroffene Familien von ihr profitieren. Deshalb lassen wir jetzt auch nicht nach in unseren Bemühungen, sondern werden uns in den weiteren Prozess einbringen. Bei einem Dauerlauf muss man auch auf den letzten Metern noch einmal nachlegen.

epd: Das Bündnis Kindergrundsicherung fordert eine umfassende Fusion von fünf verschiedenen Leistungen in einem neuen Anspruch auf Absicherung gegen Armut. Das wird aber vermutlich kaum so kommen. Geht es also zunächst nur um einen ersten wichtigen Schritt?

Schubert: Ich teile diesen Pessimismus nicht. Warum sollte das nicht so kommen?

epd: Weil das veröffentlichte Sondierungspapier nicht explizit die Aussage beinhaltet, dass nun alle Familienleistungen gebündelt werden. Droht da nicht doch eine „Kindergrundsicherung light“?

Schubert: Im Sondierungspapier steht, dass die Kindergrundsicherung „gebündelt und automatisiert ausgezahlt“ werden soll. Keine der beteiligten Parteien kann sich eine Kindergrundsicherung light erlauben, denn sie werden daran gemessen werden, ob sie hier nur Kosmetik betreiben oder ernsthaft eine nachhaltige armutspräventive Maßnahme umsetzen. Die Gesellschaft hat das sehr genau im Blick.

epd: Knackpunkt dürfte sein, ob die künftige Kindergrundsicherung bedarfsdeckend ist. Schon jetzt gehen viele Experten davon aus, dass die Regelsätze im SGB II aktuell zu niedrig sind. Es wird vermutlich nicht reichen, die aktuellen Leistungen einfach zu fusionieren, oder?

Schubert: Genau. Es reicht nicht, die bestehenden, zum Teil unzureichenden Leistungen einfach zusammenzufassen. Es braucht eine ganz neue Leistung, in der die bisherigen aufgehen. Dafür bedarf es insbesondere einer Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums. Bislang werden die Bedarfe unrealistisch niedrig berechnet. Sie müssen neu erhoben werden und insbesondere der Bereich Bildung und Teilhabe muss mehr zu Buche schlagen.

epd: Letztlich dreht sich auch bei den Koalitionsverhandlungen alles ums Geld. Haben Sie durchgerechnet, was eine umfassende Reform nach Ihren Vorstellungen den bedürftigen Familien je Kind und Monat bringen würde und welche Gelder der Fiskus dazu bereitstellen müsste?

epd: Natürlich haben wir das durchgerechnet und unsere Konzepte liegen seit Langem auf dem Tisch. Die Frage offenbart aber in meinen Augen einen häufigen Denkfehler. Kinder kosten Geld, immer. Kinderarmut wie bisher zu verwalten, wird uns aber langfristig als Gesellschaft viel mehr kosten, weil Kinder in Armut zu oft auch als Erwachsene in Armut leben, mit allen negativen Konsequenzen für Gesundheit und Lebenserfolg des Individuums, aber auch die sich verfestigende Spaltung zwischen Arm und Reich. Die Kindergrundsicherung ist nicht nur eine solidarische Leistung für einzelne Kinder, sondern eine Investition in das Versprechen der Chancengleichheit und den sozialen Zusammenhalt.

epd: Die Dauer der Koalitionsverhandlungen ist offen. Wenn, wie zu lesen ist, die künftige Regierung noch in diesem Jahr stehen sollte, ab wann wäre ein Start der Kindergrundsicherung überhaupt realistisch?

Schubert: Die Kindergrundsicherung bedeutet einen kompletten Systemwechsel in der Familienpolitik, das bedeutet umfassende Reformen, die sehr genau durchdacht werden müssen. An dieser Stelle ist mir Akkuratesse wichtiger als Geschwindigkeit. Das Vorhaben darf nicht auf die lange Bank geschoben werden, ja. Es darf aber auch nicht hastig und unausgegoren zum Abschluss gebracht werden, dafür geht es um zu viel.

epd: Die Rede ist von einer in Zukunft automatisierten Auszahlung der Hilfe. Was stellen Sie sich darunter vor und würde sich damit nicht auch der Blick auf die Armut in Deutschland ändern?

Schubert: Wir wollen eine Kindergrundsicherung, die alle wichtigen Leistungen umfasst und niedrigschwellig in Anspruch genommen werden kann - ohne Stigma. Sie können sich nicht vorstellen, wie hoch die Quote derer ist, die Unterstützung nicht nutzen, weil Scham oder Überforderung mit den Prozessen sie davon abhält. Das ist ein Riesenproblem, denn: Leistungen kommen zu oft nicht an, obwohl ein Anspruch besteht. Mit einer automatisierten Auszahlung wäre diese Problematik vom Tisch. Letztlich muss also unser Sozialstaat so effektiv sein, dass die Menschen, die Anspruch auf Unterstützung haben, diese auch tatsächlich erhalten. Dieses sozialstaatliche Verständnis ändert selbstverständlich auch den Blick auf Armut in Deutschland - und das ist gut so.



Mehr zum Thema

Verbände bewerten Sondierungsergebnisse unterschiedlich

Das Rätselraten über kommende Sozialreformen hat ein vorläufiges Ende. Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP finden sich die Eckpunkte, auf die sich die drei Parteien verständigt haben. Vieles davon findet die Zustimmung der Sozialverbände, doch vieles eben auch nicht. Und so ist die Enttäuschung vieler Verbandsvertreter mit den Händen zu greifen.

» Hier weiterlesen