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Regierungsbildung

Verbände bewerten Sondierungsergebnisse unterschiedlich




Flaschensammler in Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
Das Rätselraten über kommende Sozialreformen hat ein vorläufiges Ende. Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP finden sich die Eckpunkte, auf die sich die drei Parteien verständigt haben. Vieles davon findet die Zustimmung der Sozialverbände, doch vieles eben auch nicht. Und so ist die Enttäuschung vieler Verbandsvertreter mit den Händen zu greifen.

Frankfurt a.M. (epd). Kritik an dem am 15. Oktober vorgestellten Papier wird laut, vor allem auf dem Feld der Pflege, dem Kampf gegen Armut und am Mindestlohn. epd sozial hat die ersten Bewertungen der großen Sozialverbände zusammengefasst:

Pflege: Patientenschützer Eugen Brysch kam zu folgender Ansicht: Die „Notsituationen der vier Millionen Pflegebedürftigen“ seien unberücksichtigt. Das Papier enthalte „nichts zur Pflege daheim, der finanziellen Not der Pflegeheimbewohner oder der Zukunftsfähigkeit der Pflegeversicherung“, kritisierte Brysch.

Auch Diakonie-Präsident Ulrich Lilie formulierte für den Bereich Pflege Erwartungen an die Koalitionsverhandlungen. Es brauche eine Reform der Pflegeversicherung, die die Eigenanteile pflegebedürftiger Menschen begrenzt. Pflegende Angehörige müssten entlastet und der Pflegeberuf attraktiver gestaltet werden.

„Weder Aufbruch noch Erneuerung“

Thomas Knieling, Bundesgeschäftsführer des VDAB, monierte, dass die bisher bekannt gewordenen Sondierungsergebnisse „für den Pflegebereich weder einen Aufbruch noch eine Erneuerung erkennen“. Vielmehr sollten alt bekannte Patentrezepte, die schon in der Vergangenheit nicht zur Bewältigung des Pflegemangels geführt haben, weiter gelten.

Der VdK vermisst in dem Papier am 15. Oktober vorgestellten Papier, das die Grundlage für die geplanten Koalitionsgespräche bildet, Pläne zur Stärkung der häuslichen Pflege sowie zur Zusammenlegung von privater und gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung. Es sei unverständlich, dass sich die FDP weiterhin gegen diesen wichtigen Schritt sperre, sagte Bentele am 18. Oktober in Berlin. Die häusliche Pflege auch angesichts des Fachkräftemangels zu stärken, wäre aus ihrer Sicht ein sinnvoller Ansatz. „Doch diese wird nicht einmal erwähnt, genauso wenig wie eine umfassende Pflegereform. Das ist einfach ideenlos“, kritisierte Präsidentin Verena Bentele.

Ehrliche Bestandsaufnahme angemahnt

„Wir würden uns wünschen, dass die neue Bundesregierung zuerst eine ehrliche Bestandsaufnahme macht, wo wir in der professionellen Pflege stehen und wo die zentralen Herausforderungen der Zukunft liegen“, so der Verbandschef. „Es ist also höchste Zeit umzudenken und anzuerkennen, dass es einer grundlegenden Strukturreform bedarf, die es ermöglicht, professionelle Pflegeleistungen flexibler und effizienter zu verteilen.“ Dazu müssten die Sektoren weiter aufgebrochen und die Eigenverantwortung der Unternehmen gestärkt werden. Anderenfalls wird die flächendeckende Versorgung immer weiter gefährdet, obwohl die Kosten ständig steigen.

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) forderte zügig notwendige Verbesserungen in der Altenpflege. Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler sagte. „Jetzt müssen die Weichen gestellt werden, um die dafür nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.“ Die nächste Bundesregierung müsse für mehr Personal, flächendeckend gute Löhne und eine grundlegende Finanzreform in der Altenpflege sorgen.

Finanzielle Spielräume erweitern

Die Gewerkschafterin bedauerte, dass sich SPD, Grüne und FDP in den Sondierungen nicht auf die Einführung einer Bürgerversicherung geeinigt haben. „Zumindest müssen die angehenden Koalitionäre aber einen Finanzausgleich zwischen der Privaten und der Sozialen Pflegeversicherung schaffen. Das führt zu mehr Gerechtigkeit und erweitert die finanziellen Spielräume für dringend nötige Verbesserungen.“

Armut: Der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer, verlangte eine stärkere Berücksichtigung armer Menschen. Die zukünftige Bundesregierung müsse die steigenden Energiepreise für Menschen mit niedrigen Einkommen ausgleichen, sagte Bauer. Denkbar sei etwa eine monatliche Einmalzahlung von 100 Euro.

„Bekenntnis hat historische Tragweite“

Jens M. Schubert, Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt und Sprecher des Bündnis Kindergrundsicherung, sagte, das Bekenntnis von SPD, Grünen und FDP zur Kindergrundsicherung habe historische Tragweite. „Wenn die Höhe der Leistung bedarfsdeckend ausgestaltet wird und alle relevanten sozial- und steuerrechtlichen Leistungen in einer Kindergrundsicherung zusammengefasst sind, werden wir Kinder wirkungsvoll vor Armut schützen können.“

Der Paritätische Wohlfahrtsverband zeigte sich enttäuscht. Es fehlten Ansätze, „die Armut in diesem Land zu beseitigen und die tief gespaltene Gesellschaft wieder zusammenzuführen“, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Armutspolitisch bliebe das Sondierungspapier Antworten schuldig. Zudem fehlten Schritte in Richtung Bürgerversicherung in Rente und Pflege und eine endlich wirksame Mietpreisdämpfungspolitik.

„Die Einführung einer Kindergrundsicherung beziehungsweise eines Kinder- und Jugendgrundeinkommens ist ein wichtiger Schritt in Richtung Grundeinkommen für alle“, betonte das Kampagnenbündnis Grundeinkommen (EBI). Nur so lasse sich Armut beseitigen und die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen sichern - ohne Wenn und Aber.

„Menschen in armen Haushalten fehlt es bei der digitalen Ausstattung und digitaler Kompetenz an allen Ecken und Enden“, beklagte Eva Welskop-Deffaa, die neu gewählte Präsidentin der Caritas. „Damit sich die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft durch die digitale Transformation nicht verschärft, brauchen gerade armutsgefährdete Menschen weiter Unterstützung bei der technischen Ausrüstung und den digitalen Fähigkeiten, um in der digitalen Transformation nicht abgehängt zu werden.“

„Wohnraumförderung deutlich aufstocken“

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) appellierte an SPD, Grüne und FDP, eine Nationale Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Eckpunkte dazu sollten Mengenquoten für Wohnungen für Wohnungslose sein und die deutliche Aufstockung der sozialen Wohnraumförderung. Zudem müsse die medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen gezielt verbessert werden, etwa durch einen Fonds auf Bundesebene zur Finanzierung medizinischer Versorgungsprojekte und einen erneuten Erlass von Beitragsschulden in der Krankenversicherung (Beitragsschuldengesetz).

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W: „Die Lebenssituation von Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit muss bei den künftigen Entscheidungen der Politik unbedingt mitgedacht werden. Auf allen politischen Ebenen braucht es den Willen, Wohnungslosigkeit entschieden zu bekämpfen.“

Arbeit: Die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland e.V., Verena Bentele, hält die von SPD, Grünen und FDP angekündigte Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro für zu gering. „Ich bin der Meinung, wenn man wirklich die Menschen im Land stärken möchte, wenn man ihnen die Möglichkeit geben möchte, etwas für das Alter zurückzulegen, sich Pflege noch leisten zu können und vor allem eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erwirtschaften, dann ist ein Mindestlohn von 13 Euro eben das Maß der Dinge“, sagte Bentele im phoenix-Interview.

Dirk Baas


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