Potsdam (epd). Menschen mit schwersten Behinderungen benötigen einer Expertenkommission zufolge deutlich bessere Unterstützung. Das Bundesteilhabegesetz werde bislang nur unzureichend umgesetzt, heißt in einem Bericht der Kommission, der am 10. November im Potsdamer Oberlinhaus der Diakonie vorgestellt wurde. Erforderlich seien unter anderem eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse Betroffener, ein Bürokratieabbau und eine größere Attraktivität der Arbeit in der Pflege.
Die Expertenkommission war nach dem Gewaltverbrechen vom 28. April 2021 im Oberlinhaus mit vier getöteten Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen eingesetzt worden. Eine Pflegekraft des evangelischen Sozialunternehmens wurde in dem Fall später wegen Mordes verurteilt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Das Oberlinhaus hat nach eigenen Angaben inzwischen sein Gewaltschutzkonzept weiterentwickelt.
Der theologische Oberlinhaus-Vorstand Matthias Fichtmüller sagte, der Assistenzbedarf von Menschen mit Behinderungen müsse stärker in den Blick genommen werden. Bei der Umsetzung ihrer Rechte gebe es weiter eine Lücke „zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit“. Die Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, sagte, die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Ländern verlaufe „außerordentlich schleppend“ und sei von unzureichenden Ressourcen flankiert. Schoen gehört ebenfalls der sechs-köpfigen Kommission an.
Fichtmüller sagte, zentrale Forderung an die Politik in Brandenburg sei, Ausbildung und Beruf des Heilerziehungspflegers für Behinderte zu stärken und dafür auch das Schulgeld für freie Träger abzuschaffen. Die Geschäftsführerin der Oberlin-Lebenswelten, Tina Mäueler, sagte, in Brandenburg würden im Jahr 2030 voraussichtlich rund 4.800 Heilerziehungspfleger benötigt. Es werde davon ausgegangen, dass dann rund 2.000 dieser Stellen nicht besetzt werden können, sagte sie: „Wir gehen auf dramatische Zahlen zu.“ Fichtmüller betonte, wesentlich sei auch, bezahlbaren Wohnraum für Behinderte und ihre Fachkräfte zu schaffen.
Der aktuelle Bericht mit dem Titel „Anforderungen an eine bedarfsgerechte Eingliederungshilfe für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“ ist nach Angaben der Kommission ein erster Zwischenbericht. Er diene als „Grundlage und Orientierung für einen partizipativen Diskursprozess“, hieß es. Der Abschlussbericht soll voraussichtlich im kommenden Sommer veröffentlicht werden.
Dafür solle nun auch die Sicht Betroffener, Angehöriger und Beschäftigter ermittelt und mit einbezogen werden, hieß es. Der Jurist Christian Bernzen sagte, jede Gruppe werde dann für sich und die eigenen Interessen und Bedürfnisse sprechen. „Alle können kommunizieren“, betonte er mit Blick auf mögliche Verständigungsschwierigkeiten bei schweren Mehrfachbehinderungen. Die Frage sei vielmehr, ob Experten und Gesellschaft gut genug zuhören können. Ziel seien Strukturen, die mehr Vielfalt zulassen. Bernzen ist Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin und Mitglied der Kommission.