Celle (epd). Ein noch nicht als Flüchtling anerkanntes Kind hat Anspruch auf Sicherung seiner Gesundheit. Selbst wenn es wegen einer Erkrankung keine akuten Schmerzen hat und auch kein medizinischer Notfall vorliegt, darf der Sozialhilfeträger die Kostenübernahme für eine ärztlich angeratene Operation nicht ohne weiteres verweigern, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in einem am 27. September veröffentlichten Urteil. Gerade bei Kindern müsse die Behörde genau begründen, warum die Kosten für eine an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme nicht übernommen werden sollen, erklärten die Celler Richter, die die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zugelassen haben.
Im Streitfall ging es um ein 2014 geborenes irakisches Flüchtlingskind, das im Februar 2019 zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern nach Deutschland eingereist war. Die Asylanträge der Familie wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. Dagegen hatten sie Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben.
Nachdem die Familie in einer niedersächsischen Gemeinde in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht wurde, wurde bei dem Kind eine Gallengangzyste festgestellt. Ärzte rieten zur operativen Entfernung des Geschwulstes. Es gebe zwar derzeit keine Beschwerden. Ohne Operation bestehe aber ein erhöhtes Krebsrisiko.
Das Kind wurde am 5. September 2019 operiert. Dabei wurde festgestellt, dass die Zyste sich bereits entzündet hatte. Die Behandlungskosten beliefen sich auf rund 20.000 Euro.
Der Sozialhilfeträger lehnte die Kostenübernahme ab. Erhalten Flüchtlinge Asylbewerbergrundleistungen, könnten sie nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen eine erforderliche ärztliche oder zahnärztliche Behandlung auf Kosten der Sozialhilfe verlangen. Hier habe aber weder eine akute Erkrankung vorgelegen, noch habe die Fünfjährige Schmerzen gehabt. Der Eingriff sei zwar medizinisch notwendig gewesen. Man hätte aber so lange warten können, bis das Kind sich in Deutschland 18 Monate rechtmäßig aufhält. Ab diesem Zeitpunkt wäre es gesetzlich krankenversichert gewesen, so dass die Krankenkasse für die Operation aufgekommen wäre.
Zudem habe das Krankenhaus wegen des Eingriffs nicht als „Nothelfer“ gehandelt, sodass auch aus diesem Grund die Behandlungskosten nicht erstattet werden könnten. Um von einem „Nothelfer“-Einsatz ausgehen zu können, müsse ein Eilfall vorliegen. Daran fehle es hier.
Das LSG urteilte, dass der Sozialhilfeträger die Behandlungskosten übernehmen muss. Die Gemeinde sei als Sozialhilfeträger zuständig, da das Kind dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe.
Ein vorrangiger Anspruch auf „Krankenhilfe“, bei dem Flüchtlinge vergleichbare medizinische Leistungen erhalten können wie Sozialhilfebezieher, bestehe aber nicht. Denn die Klägerin habe sich zum Zeitpunkt der Operation noch nicht 18 Monate in Deutschland aufgehalten.
Auch bestehe kein Anspruch auf Kostenübernahme wegen des Vorliegens akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. Denn es habe sich hier um eine sich langsam entwickelnde und nicht um eine akute Erkrankung gehandelt. Schmerzen habe das Kind nicht gehabt.
Allerdings müsse die Sozialhilfe eine „sonstige Leistung“ gewähren, entschied das LSG. Gerade bei Kindern oder bei Personen, die Folter, Vergewaltigung oder andere schwere Formen von Gewalt erlitten haben, müsse „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt“ werden. Deutschland sei nicht nur zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums des Kindes verpflichtet. Der Bund sei auch an die UN-Kinderrechtskonvention gebunden, die die Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern - hier der Gesundheit - verlangt.
Der operative Eingriff sei mangels Alternativen zur Sicherung der Gesundheit „unerlässlich“ gewesen. Ohne die Entfernung der Zyste liege das Risiko der Entartung nach 20 Jahren bei über 20 Prozent. Letztlich bestünden keine „hinreichenden Gründe“, „der Klägerin die erforderliche medizinische Hilfe - gegebenenfalls nur vorübergehend - vorzuenthalten“, urteilten die Celler Richter.
Bereits am 10. Juli 2018 hatte das LSG Darmstadt einen Landkreis dazu verpflichtet, die Hepatitis-C-Therapie für einen geduldeten Mann aus Aserbaidschan zu übernehmen. Voraussetzung für die Übernahme von Krankheitskosten sei, dass der Ausländer sich nicht nur kurzfristig in Deutschland aufhält und es sich nicht um die Behandlung einer Bagatellerkrankung handele.
Denn auch geduldete Ausländer im Asylbewerberleistungsbezug hätten Anspruch auf ärztliche Behandlung von akuten Erkrankungen und der Sicherung der Gesundheit. Das Grundgesetz gewähre einen Leistungsanspruch auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dazu gehörten auch Gesundheitsleistungen.
Az.: L 8 AY 19/22 (Landessozialgericht Celle)
Az.: L 4 AY 9/18 B ER (Landessozialgericht Darmstadt)