Hannover, Koblenz (epd). Micheli de Farias Felipe steht am Fenster ihrer kleinen Wohnung in einer Plattenbausiedlung in Hannover und blickt in die Ferne. Neben ihr erinnert eine Fahne an ihr Heimatland Brasilien. Vor mehr als zwei Jahren kam die 41-jährige Pflegekraft nach Deutschland und ließ ihre drei Töchter, ihre Mutter und die behinderte Schwester zurück. Vom Traum einer gesicherten Zukunft mit gutem Gehalt ist nicht viel geblieben. „Ich würde keiner meiner Freundinnen mehr dazu raten, hierherzukommen“, sagt sie und atmet lang und schwer aus.
De Farias Felipe, die nach eigenen Angaben in Brasilien ein Studium zur Pflegekraft und mehrere Fachweiterbildungen absolvierte, hat auf einem zerschlissenen Sofa einen Stapel Ordner ausgebreitet, die von ihrem Weg in Deutschland erzählen. Eine Klinik in Bayern warb sie an, sie machte einen Sprachkurs und stieg schließlich ins Flugzeug. In der Einrichtung auf dem Land hätten die Mitarbeitenden allerdings kaum Zeit gefunden, die neue Kollegin mit begrenzten Sprachkenntnissen einzuarbeiten. Als sie sich mit einer Infektion krankmeldete, habe die Klinikleitung ihr gedroht, sie wieder zurückzuschicken. „Alle hatten Angst“, sagt sie.
Nach mehr als einem Jahr kündigte die Brasilianerin. Die Klinik in Bayern forderte daraufhin 7.000 Euro für Flug und Sprachkurs von ihr zurück. Sie habe zusätzliche Dokumente unterschrieben, diese allerdings nicht richtig verstanden, sagt sie. Von ihren letzten Gehältern wurden bereits Raten abgezogen. Die Pflegerin musste sich Geld von ihrer Familie in Brasilien leihen, um ihre Miete zu bezahlen. „Catástrofe“, sagt de Farias Felipe und deutet auf das Schreiben vor ihr.
Die Klinik antwortet auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd), dass sie seit 2019 gemeinsam mit der Arbeitsagentur Pflegekräfte aus Brasilien anwerbe, aber sich zu Einzelfällen aus Datenschutzgründen nicht äußern dürfe. Bei den Arbeitsverträgen handle es sich um von der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) vorab geprüfte Musterverträge, die Bindungsklauseln enthielten, sagte ein Sprecher. Bewerber seien bereits bei der Rekrutierung unter anderem „umfangreich zweisprachig“ auf das damals übliche Vorgehen hingewiesen worden.
Der Koblenzer Arbeitsforscher Christian Lebrenz kennt ähnliche Fälle wie den der Brasilianerin. Sowohl bei der Integration in den neuen Arbeitsplatz als auch bei der Hilfe bei Behördengängen oder der Wohnungssuche gebe es Defizite, sagt er. „Da steht jemand unangekündigt auf der Matte und spricht kaum Deutsch. So jemanden soll man bei allem Zeitdruck jetzt auch noch einarbeiten.“ Fast zehn Prozent (96.000) der in Deutschland arbeitenden Pflegekräfte kommen laut Statistischem Bundesamt aus dem Ausland, Tendenz steigend. Und Deutschland sucht weiterhin nach ausländischen Fachkräften.
Für die privatwirtschaftliche Anwerbung von Pflegefachpersonal aus Drittstaaten gibt es ein staatliches Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“. Laut Arbeitsforscher Lebrenz hilft das freiwillige Siegel allerdings nur bedingt, um den Arbeitsmarkt zu strukturieren. Krankenhäuser oder Pflegeheime zahlten teilweise zwischen 6.000 und 10.000 Euro an Anwerbeagenturen für eine Vermittlung. „Solange der Markt intransparent bleibt und verbindliche Standards fehlen, werden immer Leute diese Grauzonen ausnutzen und durch falsche Versprechungen den Fachkräften und den Einrichtungen viel Geld abknöpfen“, warnt der Experte für Personalmanagement.
Ganz andere Erfahrungen haben drei Philippinerinnen in einem diakonischen Pflegeheim im niedersächsischen Hessisch Oldendorf gesammelt. Die Frauen, alle um die 30 Jahre alt, sind vor einem halben Jahr rund 10.000 Kilometer gereist, um in der Einrichtung mit rund 100 Bewohnern zu arbeiten. Zwar klagt Geschäftsführerin Karin Raestrup darüber, dass sich die Einreise der Frauen durch die Bürokratie um ein Jahr verzögert habe. Ansonsten sei sie sehr dankbar für die neuen Mitarbeiterinnen, sagt die Leiterin, die beim Entlanggehen der Flure alle Bewohner mit Namen begrüßt: „Der Markt ist wie leer gefegt.“
Damit sich die Mitarbeiterinnen auch wohlfühlen, hatte Raestrup sie vorab in einer Videokonferenz gefragt, was sie sich wünschen. „Alle drei wollten gutes WLAN haben“, erzählt sie. Die studierten Pflegerinnen konnten im Anbau eine gemeinsame möblierte Wohnung beziehen. Und weil der Reis, den sie zu fast jeder Mahlzeit essen, so teuer war, bestellte ihnen die Küche des Heims für einen günstigeren Preis einen Sack von 25 Kilogramm.
Laut Arbeitsforscher Lebrenz braucht es nach der Ankunft in Deutschland vor allem eine solche Begleitung. „Ideal wären drei Leute: jemand aus der Einrichtung für die administrativen Dinge, Gleichaltrige vor Ort mit deutschem Hintergrund, um sie zum Beispiel im Volleyballverein einzuführen, und jemand aus dem Herkunftsland, um die deutsche Kultur zu interpretieren.“
Die Philippinerin Irene Teologo, die sich in einer Pause auf die Terrasse in die Sonne gesetzt hat, sagt, sie habe nach dem Onlinesprachunterricht in ihrer Heimat aufgrund der langen Wartezeit fast ein Jahr lang kein Deutsch gesprochen. „Die Sprache ist noch schwierig, aber die Kollegen sind sehr nett“, sagt die 31-Jährige mit einem vorsichtigen Lächeln. Sie hält ein gerahmtes Foto ihrer Familie in den Händen. Ihren Mann und die beiden Kinder will sie schnellstmöglich nach Deutschland holen.
Die Philippinerinnen müssen trotz abgeschlossenem Pflegestudium in Deutschland die Prüfung zur Pflegekraft absolvieren. Und auch Brasilianerin de Farias Felipe wartet noch auf ihre Anerkennung. Laut Arbeitsforscher Lebrenz braucht es auch Zeit, damit sie sich an das deutsche Pflegeverständnis gewöhnen. De Farias Felipe erzählt, dass sie in Brasilien nur etwa halb so viele Patienten betreuen musste wie in Deutschland. Es habe Unterstützung bei der Medikamentenvergabe oder der Essensverteilung gegeben.
Nach ihrer Kündigung vermittelte eine private Agentur der Brasilianerin eine Stelle in einem Krankenhaus bei Hannover und lieh ihr auch das Geld für den Umzug. Die Klinik in Bayern wirbt unterdessen bereits neue Fachkräfte in Brasilien an.
De Farias Felipe konnte nach fast einem Jahr zumindest ihre jüngeren Töchter nach Deutschland holen. Doch die alleinerziehende Mutter steht vor einem Schuldenberg, wie sie erzählt. Sie hatte Glück und fand eine Kollegin, die ihr half. Von dem Anspruch auf Kindergeld beispielsweise hatte sie bis dahin nichts gehört. Sie liebe ihre Arbeit und sei dankbar dafür, in Deutschland zu sein, sagt sie. „Aber vieles muss sich verbessern.“ Für Pflegekräfte fehle in Deutschland der menschliche Blick.