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Diakonie und Caritas sehen "neue Armut"



Die Inflation treibt immer mehr Menschen in die Beratungsstellen von Caritas und Diakonie. Die Wohlfahrtsverbände sprechen von einer "neuen Armut". Sie erfasst zunehmend auch erwerbstätige Menschen der unteren Mittelschicht.

Stuttgart/Freiburg/Karlsruhe (epd). Ausgerechnet im reichen Baden-Württemberg haben immer mehr Menschen Geld- und Existenzsorgen. Das geht aus einer Umfrage von Diakonie und Caritas im Land hervor, die am 4. Mai bei einem Online-Pressegespräch vorgestellt wurde. Die Vorständinnen und Vorstände der vier Kirchlichen Wohlfahrtsverbände im Südwesten sprachen von einer „neuen Armut“.

Die steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel bringen den Umfrageergebnissen aus den vergangenen zwei Jahren zufolge auch Haushalte unter Druck, die bisher gut finanziell zurechtkamen. Die „neue Armut“ werde sich noch verstärken, befürchten die Wohlfahrtverbände. So stehen etwa Nebenkostenabrechnungen mit den Aufforderungen zur Nachzahlung oft noch aus.

Menschen aus der Mittelschicht rutschen in die Armut

„Die steigenden Lebenshaltungs- und Energiekosten sind fast zu 100 Prozent in den Beratungsstellen angekommen“, sagte die Vorständin des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Annette Holuscha-Uhlenbrock. Ratsuchende kämen vor allem wegen Liquiditätsproblemen, die zugleich starke Zukunftsängste auslösten. „Ich finde es erschreckend, dass zunehmend auch Menschen aus der Mittelschicht in Armut rutschen“, so die Caritasdirektorin.

Der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Baden, Urs Keller, wies darauf hin, dass die staatlichen Unterstützungsleistungen nicht im selben Maße gestiegen seien wie die Inflation und die Lebensmittelpreise. Viele Menschen hätten zwar Arbeit, aber ihr Einkommen reiche trotzdem nicht mehr aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. „Wer vorher Miete, Auto, Heizung, Telefon und Lebensmittel bezahlen konnte, steht heute schon bald bei der Tafel an“, sagte der Oberkirchenrat.

Kirchliche Hilfen kein Ersatz für staatliche Unterstützung

Die Angebote der Kirchen seien jedoch kein Ersatz für staatliche Unterstützungsangebote, so Keller. Gleichwohl leisten die Kirchen in Baden-Württemberg mit dem Energienothilfefonds einen Beitrag zur Bekämpfung der finanziellen Not. „Ich bin froh, dass die Kirchen ihrem Auftrag entsprechend handeln“, betonte die Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, Annette Noller.

Mit insgesamt 16,9 Millionen Euro unterstützen die evangelischen und katholischen Kirchen im Südwesten Menschen, die wegen der anhaltenden Teuerungen akut in finanzielle Not geraten sind. Die Landeskirchen und (Erz-) Diözesen hatten auf die sich aus der Energiepreispauschale ergebende Kirchensteuer verzichtet. Das Geld wurde in den Energienothilfefonds eingebracht.

Beratungsstellen sind längst überlastet

Zielgruppenspezifische Angebote forderte die Vorständin des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg, Birgit Schaer. Neben finanzieller Entlastung bräuchten die ratsuchenden Menschen schnelle und unbürokratische Soforthilfe. „Ohne die Beratungsstellen von Caritas und Diakonie möchte ich mir unser Land nicht vorstellen“, sagte Schaer.

Gleichwohl sind auch die Beratungsstellen überlastet. Der steigende Informationsbedarf sowie die zunehmende Komplexität der Anfragen haben dazu geführt, dass die Wartezeiten auf einen Beratungstermin immer länger werden: für eine allgemeine Sozialberatung beträgt die Wartezeit laut der Umfrage zurzeit zwei bis fünf Wochen, in der Schuldnerberatung zwei bis sechs Monate. Um der Flut von Anfragen gerecht zu werden, werden vermehrt Telefonberatungen angeboten.

Susanne Lohse