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Diakonie-Präsident: Jubiläum nimmt Schattenseiten in den Blick




Über 130 Jahre alt: die Brockensammlung in Bethel
epd-bild/Hauptarchiv Bethel/v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel
Zum 175. Jubiläum will die Diakonie ihre Geschichte kritisch würdigen. Auf einer Fachtagung nahmen Historiker und Diakoniewissenschaftler Licht- und Schattenseiten der Geschichte in den Blick.

Bielefeld (epd). Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sowie Wissenschaftler haben für einen differenzierten Blick auf die 175-jährige Geschichte der Diakonie plädiert. In den 175 Jahren ihres Bestehens habe die organisierte Diakonie in Deutschland positive Traditionslinien hervorgebracht, aber auch Abwege beschritten, sagte Lilie am 20. April in Bielefeld. Das Jubiläum soll laut Lilie auch die Schattenseiten der Geschichte in den Blick nehmen. Auf einer Fachtagung der Diakonie warben Historiker dafür, den ursprünglichen Freiheitsgedanken diakonischer Arbeit wiederzuentdecken.

Der Historiker Norbert Friedrich plädierte für einen differenzierten Blick auf die patriarchischen Gründergestalten der Diakonie. Die patriarchalischen Strukturen würden heute oft kritisch gesehen, sagte der Historiker der Düsseldorfer Fliedner-Stiftung. Ohne die prägenden Persönlichkeiten wie Theodor Fliedner oder Johann Hinrich Wichern wäre die heutige Diakonie jedoch nicht so groß geworden.

Historiker: Versäumnisse in der NS-Zeit

Der Historiker Hans-Walter Schmuhl unterstrich die Ambivalenz der Sozialstaatlichkeit. So werde dadurch die soziale Arbeit weitgehend vom Staat refinanziert, im Gegenzug setze der Staat die fachlichen Standards, sagte der Bielefelder Historiker laut Redetext. Dadurch gingen aber auch freiheitliche Impulse in der Erziehungsarbeit verloren. Der ursprüngliche Arbeitsansatz diakonischer Arbeit, den einzelnen Menschen und seine Potenziale in den Blick zu nehmen, könne aber auch heute noch eine Inspiration sein.

Die Missstände in der Geschichte der Diakonie hält Schmuhl für weitgehend aufgearbeitet. Mit Blick auf die Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten gegen Menschen mit Behinderungen zeige die Forschung Versäumnisse der evangelischen Kirche und der Diakonie, hatte der Historiker vor Beginn der Fachtagung dem epd gesagt. Unter dem Titel „Ordnung und Freiheit - Ambivalenzen in der Geschichte der Diakonie“ befassen sich bis Freitag Expertinnen und Experten aus den Bereichen Geschichte, Diakoniewissenschaft und Theologie mit den Licht- und Schattenseiten der Diakonie-Geschichte.

„Am Ideal der Freiheit des Einzelnen festhalten“

Der Münchner Theologe Reiner Anselm verwies auf die religiösen Wurzeln des modernen Freiheitsbewusstseins. Der Aufruf des Reformators Martin Luthers, Buße zu tun, bedeute, die eigenen Vorstellungen und Interessen kritisch zu hinterfragen, sagte Anselm, der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität München Theologie lehrt. Die besondere Leistungskraft des theologischen Freiheitsbegriffs bestehe darin, an dem Ideal der Freiheit des Einzelnen festzuhalten.

Die Bochumer Theologin Ute Gause warb in Bielefeld für eine stärkere Wertschätzung der Arbeit von Diakonissen. Diese hätten ihre Fähigkeiten einsetzen und in vielen Bereichen auch frei arbeiten können, sagte sie vor ihrem Vortrag zu diesem Thema in einem Interview auf der Interneseite der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Allerdings sei von ihnen auch eine starke Unterordnung verlangt worden. Zugleich sei der Schatz diakonischer Arbeit, den die Diakonissen verkörperten, noch nicht gehoben, sagte Gause, die an der Ruhr-Universität Bochum einen Lehrstuhl für Krichengeschichte innehat.

Vor 175 Jahren, im September 1848, regte der Hamburger Pfarrer und Anstaltsleiter des „Rauhen Hauses“, Johann Hinrich Wichern, beim ersten Evangelischen Kirchentag in Wittenberg die Gründung einer überregionalen protestantischen Hilfsorganisation an.

Ziel war es, die Arbeit der zahlreichen christlichen Initiativen und Vereine zu bündeln. Das war der entscheidende Impuls für eine neue, kirchliche „Innere Mission“, aus der über die Jahrzehnte der weitverzweigte evangelische Sozialverband entstand, der heute Diakonie heißt. Das 175. Jubiläum der Diakonie soll unter anderem im Herbst mit einem Festakt in Berlin gefeiert werden.

Holger Spierig


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