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Interview

Historiker: Diakonie geht inzwischen offensiv mit Missständen um




Hans-Walter Schmuhl
epd-bild/Hans-Walter Schmuhl/privat
Nach Ansicht des Historikers Hans-Walter Schmuhl sind Missstände in der Geschichte der Diakone weitgehend aufgearbeitet. Mit Blick auf die Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten gegen Menschen mit Behinderungen zeige die Forschung jedoch Versäumnisse von Kirche und Diakonie, sagt der Historiker im Interview mit epd sozial. Er ist einer der Referenten der Fachtagung der Diakonie zum 175-jährigen Bestehen am 20. und 21. April in Bielefeld.

Bielefeld (epd). Das Treffen unter dem Titel „Ordnung und Freiheit - Ambivalenzen in der Geschichte der Diakonie“ beleuchtet die Licht- und Schattenseiten der Diakonie-Geschichte. Denn, so die Veranstalter, es wurden nicht nur positive Traditionslinien hervorgebracht, sondern auch Abwege beschritten. Mit Blick auf heute sagte Schmuhl, er sehe den Bereich der Altenpflege mit Sorge. Knapper werdende Mittel und Personal führten oftmals zu Missständen. Die Fragen stellte Holger Spierig.

epd sozial: Zum 175. Jubiläum rückt die Diakonie auch die Schattenseiten in den Fokus. Wie geht die Diakonie mit dunklen Kapiteln um?

Hans-Walter Schmuhl: Nach meiner Erfahrung geht die Diakonie nach einer anfänglichen Lernphase in den 1990er-Jahren inzwischen sehr offen und offensiv mit den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte um. Es wird nicht abgewartet, dass von außen Dinge skandalisiert werden, sondern kritische Themen werden schon prospektiv angegangen. Vieles ist über den Weg der Auftragsforschung schon bearbeitet worden. Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zum Beispiel haben sich in den 1990er-Jahren zunächst schwergetan, was die Aufarbeitung der NS-Euthanasie und die Rolle Bethels darin anging. Später bei den Themen Zwangsarbeit in diakonischen Einrichtungen während des Zweiten Weltkriegs sowie Gewalt in Behinderteneinrichtungen waren die v. Bodelschwinghschen Stiftungen dann aber mit die ersten diakonischen Einrichtungen, die das untersuchen ließen.

epd: Welche Rolle haben Kirche und Diakonie bei der Euthanasie der Nationalsozialisten gespielt?

Schmuhl: Es gibt hier zwei gegensätzliche Narrative: Zum einen gab es nach dem Krieg die Legende, nach der Kirchen sowie Diakonie und Caritas gegen die Aktion Widerstand geleistet hätten. Später gab es eine Gegenbewegung, die Kirchen und Diakonie vorwarf, Mitwisser und sogar Mittäter gewesen zu sein. Beides stimmt so nicht, wie wir mittlerweile wissen. Die Forschung ergibt inzwischen ein sehr differenziertes Bild.

epd: Wie sieht das aus?

Schmuhl: Man kann schon sagen, dass der Widerstand der evangelischen Kirche und der Diakonie zu spät kam. Es gab zwar Denkschriften und Protestnoten gegen die Aktion T4, dem systematischen Massenmord der Nationalsozialisten an Menschen mit Behinderungen. Aber man hat sich 1933 nicht klar gegen die Gesundheits- und Rassenpolitik des Nationalsozialismus positioniert. Im Bereich der Eugenik ist man sehr weit auf das Regime zugegangen und hat das Sterilisationsprogramm in den eigenen Einrichtungen willfährig mitgemacht. Das war ein grundlegender Fehler. Der Grundgedanke der Eugenik - Ausmerzung des Minderwertigen - ist so gegen den Grundgedanken der Inneren Mission gewesen, dass man damit seinen eigenen Auftrag verraten hat.

epd: Was waren bei der evangelischen Kirche die Gründe dafür?

Schmuhl: Das Versagen lag unter anderem daran, dass die evangelische Kirche nicht mit einer Stimme sprechen konnte. Das hatte mit dem Kirchenkampf zu tun, es gab eine tiefe Spaltung in den einzelnen Landeskirchen. Es hat aber auch mit der Organisation von Kirche und Diakonie zu tun. Es hat Einzelne gegeben, die mutig und relativ offen Kritik an der NS-Euthanasie geäußert haben. Andere, wie Fritz v. Bodelschwingh etwa, haben versucht, auf dem Weg der stillen Diplomatie etwas zu ändern. Aber es gab auf evangelischer Seite nicht die eine Stimme, die tonangebend gewesen wäre. Auf der katholischen Seite hatten die Bischöfe die Schlüsselposition, eine ganze Reihe deutscher Bischöfe sind da sehr offen aufgetreten.

epd: Wie haben sich in der Situation evangelische Einrichtungen konkret verhalten?

Schmuhl: Die Einrichtungen der Inneren Mission für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen standen vor einem Dilemma, als dann 1940/41 die großen Abtransporte im Rahmen der Aktion T4 stattfanden. Denn die meisten Transporte aus kirchlichen Einrichtungen galten offiziell als „normale“ Verlegungsaktionen. Wer etwas dagegen unternehmen wollte, hätte sich außerhalb des Gesetzes gestellt. Da hat man sich für eine Art teilnehmenden Widerstand entschieden. Das hat zwar dazu geführt, dass einzelne Kranke bewahrt worden sind. Eigentlich hat man aber kollaboriert, was den Abtransport der anderen anging.

epd: In vielen Einrichtungen der Jugendhilfe hat es in den 50er-70er Jahren körperliche, seelische Gewalt und auch Missbrauch gegeben. Wie schneiden diakonische Einrichtungen im Vergleich zu anderen Jugendhilfe-Einrichtungen ab?

Schmuhl: Die Gewaltverhältnisse, die etwa in Einrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen oder in Fürsorgeerziehungseinrichtungen entstehen, haben mit bestimmten Anstaltsstrukturen zu tun. Die Frage der Trägerschaft ist da nicht so entscheidend. Einen Unterschied gibt es allerdings beim Selbstverständnis: Einrichtungen der Diakonie haben einen klaren christlichen Auftrag. Da gibt es eine erlebte Dissonanz bei dem Personal, das die Arbeit mit dem religiösen Anspruch in Einklang bringen muss. Das hat aber nicht zu einem Unterschied in der Behandlung der Bewohnerinnen und Bewohner geführt.

epd: Wie kam es zu diesem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

Schmuhl: Im 19. Jahrhundert sind die Einrichtungen der Inneren Mission auf Initiativen der Zivilgesellschaft entstanden. Der Grundgedanke war, dass es „Reichgottesarbeit“ ist. Die Bewohner in den Einrichtungen sollen in die Lage versetzt worden, in freier Willensentscheidung das Wort Gottes anzunehmen. Deswegen gibt es eigentlich ein Grundprinzip der Freiheit. Niemand sollte gegen seinen Willen in einer solchen Einrichtung festgehalten werden, der freie Willen der Menschen sollte nicht unterdrückt werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Einrichtungen der inneren Mission dann mehr und mehr in den Dienst staatlicher Sozialpolitik gestellt.

epd: Was hatte das für Folgen?

Schmuhl: Die Diakonie ist Teil sozialer Staatlichkeit und übernahm Aufgaben, die eigentlich der Staat machen soll. Das wird vom Staat auch refinanziert. Im Gegenzug büßt die Diakonie dadurch aber einen Teil ihrer eigenen Freiheit ein, Arbeit so zu tun, wie sie es richtig hielt. Dieses Grundproblem schwingt bis heute mit.

epd: Was bedeutet das konkret?

Schmuhl: Der Charakter der Arbeit hat sich in vielen Feldern schleichend verändert: Die Einrichtungen nahmen immer mehr Anstaltscharakter an. Besonders deutlich wird das in der Erziehungsarbeit: Als die neue Fürsorgeerziehung eingeführt wird, werden Rettungshäuser für verwahrloste Kinder und Jugendliche um 1900 nach Vorgaben des Staates zu geschlossenen Häusern. Daher musste man auf einmal die Türen abschließen und Gitter vor die Fenster machen.

epd: Ist Ihrer Einschätzung nach mit den bisherigen Studien alles an Missständen in der Diakonie aufgearbeitet oder gibt es noch Kapitel, die in den Blick genommen werden müssten?

Schmuhl: Die großen Konfliktfelder sind meiner Einschätzung nach ausgemessen. Ich erwarte nicht, dass noch etwas ganz Neues auftaucht, was zu einer völlig neuen Bewertung führen würde. Es gibt aber noch einige Bereiche, die weitgehend unerforscht sind. Ein Beispiel ist die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in den 50er und 60er Jahren, die aus der Sowjetischen Besatzungszone oder der DDR geflohen waren. Die galten in der BRD noch nicht als volljährig und waren deshalb in Anstalten untergebracht. Das war ein Arbeitsbereich, in dem es auch einige Missstände gegeben hat. Ein großes Thema aktuell sind die Kindererholungskuren in der Bundesrepublik wie auch in der DDR. Über diese Kurheime, bei denen auch die Diakonie beteiligt war, wissen wir noch sehr wenig.

epd: Was kann heute getan werden, damit Missbrauch oder Grenzverletzungen gar nicht erst entstehen können?

Schmuhl: Die Entstehung von Missständen, gerade auch von Gewaltverhältnissen in Einrichtungen, hat immer etwas mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun. Wenn die knapp sind, wenn in unzureichenden räumlichen Verhältnissen mit zu wenig oder schlecht ausgebildetem Personal eine große Gruppe von Menschen betreut werden muss, dann besteht immer ein großes Risiko für Zwang und Gewalt. Ich sehe mit großer Sorge den Bereich der Altenhilfe. Diakonie wäre gut beraten, sich frühzeitig politisch zu artikulieren und darauf hinzuweisen, dass bestimmte Bereiche unterfinanziert sind oder drohen, unterfinanziert zu werden. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es da zu Missständen kommen wird.

epd: Wo konkret sehen Sie Risiken?

Schmuhl: Zum Beispiel muss in Urlaubszeiten häufig auf Zeitarbeitskräfte zurückgegriffen werden, weil mit dem bestehenden Personalschlüssel Lücken in der Urlaubszeit nicht gefüllt werden können. Da können dann Mitarbeitende hineinkommen, die eigentlich nicht richtig ausgebildet und vorbereitet sind. Die müssen dann aber eigenverantwortlich eine Schicht machen. Das sehe ich mit großem Unbehagen. Hier müsste das System so ausgelegt sein, dass immer qualifiziertes Personal dabei ist. Der Bedarf an Menschen mit einer Pflegeausbildung wird deutlich zunehmen, zugleich gibt es einen Mangel an Nachwuchs. Niemand weiß, wie dieses Problem gelöst werden soll.



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