Frankfurt a.M., Lohra (epd). Zentimeter für Zentimeter tastet sich Simone Hahn an der Brust ihrer Patientin voran. Behutsam. Lieber noch einmal nachfühlen, bevor sie eine noch so kleine Stelle vergisst. Die Marburgerin ist seit ihrem 16. Lebensjahr vollständig blind. Dafür kann sie umso besser tasten und ist damit prädestiniert für den Job als Medizinisch-Taktile Untersucherin, kurz: MTU.
Das heißt: Die 54-Jährige kann mit ihren Händen kleinste Tumore in der weiblichen Brust ertasten. Die Taktilografie ist neben dem jährlichen Abtasten beim Gynäkologen sowie dem Mammografie-Screening eine ergänzende Diagnoseform in der Brustkrebsfrüherkennung.
Die Ausbildung dafür läuft über die Organisation „discovering hands“. Über neun Monate hinweg lernen die Teilnehmerinnen ein spezielles Tastverfahren. Nach eigenen Angaben können die MTU etwa 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen ertasten als Ärztinnen und Ärzte. Diese entdecken Tumore demnach meist ab einer Größe von ein bis zwei Zentimetern. Simone Hahn und ihre Kolleginnen können Knötchen mit einem Durchmesser von sechs und acht Millimetern erkennen - also etwa so groß wie eine Erbse.
Tatsächlich ist wissenschaftlich erwiesen, dass infolge des Erblindens andere Sinne empfindlicher werden. Der Tastsinn, das Gehör und der Riechsinn werden etwa laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum präziser. Damit könnten blinde Menschen sich genau orientieren, trotz fehlender visueller Informationen.
Simone Hahn greift entschlossen in das Papierschälchen mit Klebestreifen und zieht sich einige heraus. Die rot-weiß gestreiften Bänder dienen der gelernten Sozialpädagogin als eine Art Koordinatensystem, um die Brust und die umgebenden Lymphdrüsen abzutasten. Je nach Brustgröße braucht Hahn 30 bis 50 Minuten pro Patientin - deutlich länger, als viele Frauenärztinnen- und ärzte dafür aufbringen.
Falls die Expertin etwas Auffälliges entdeckt, gibt sie den Befund an den Arzt oder die Ärztin in der Praxis weiter, in der sie als Selbstständige arbeitet. Heute ist sie in einer gynäkologischen Praxis im mittelhessischen Lohra im Einsatz. Immer dabei: ihr Blindenhund, der tiefenentspannt unterm Schreibtisch liegt - ganz nah an den Füßen seines Frauchens.
„Wenn ich einen möglichen Tumor fühle, bleibe ich erstmal ruhig“, erzählt die Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Empathie sei wichtig für ihren Job. Früher hat Hahn im Dialogmuseum Frankfurt gearbeitet. Über den Blindenverband sei sie auf die Stelle als MTU aufmerksam geworden.
Ihren besonderen Tastsinn hat Hahn dem Lesen zu verdanken, vermutet sie: „Bei der Blindenschrift sind die Buchstaben ja erhaben und ich glaube, dadurch sind meine Fingerkuppen sensibilisiert“. Das nötige medizinische Wissen habe sie sich in der Ausbildung angeeignet. „Das war ganz schön schwer“, erinnert sie sich.
Auf der Homepage ihres Arbeitgebers „discovering hands“ können sich interessierte Patientinnen über eine Praxisfinder-Funktion informieren, welcher Gynäkologe in der Nähe die Untersuchungsmethode anbietet. Außerdem sei es möglich, dass die Untersucherinnen Unternehmen besuchen, um den Mitarbeiterinnen vor Ort die Selbstabtastung zu erläutern.
Noch übernehmen nicht alle Krankenkassen die Leistung. Patientin Tamara Henke trägt die Kosten für ihre heutige Behandlung selbst. 65 Euro sind das, wie sie erzählt. Jeden Cent sei die Behandlung wert gewesen, sagt die 64-Jährige, die - wie sie selbst sagt - eine „Problembrust“ habe. Erleichtert ergänzt sie: „Der Befund war negativ.“ Einmal im Jahr will die Frau ihre Brust nun von Simone Hahn checken lassen.
32 gesetzliche Krankenkassen sowie alle Privatversicherungen zahlen aktuell die Kosten für die taktile Brustuntersuchung, wie „discovering hands“ angibt. Mehr als 100 Arztpraxen in Deutschland sind nach Angaben der Organisation dabei. Simone Hahn wünscht sich, dass noch mehr Frauen den Beruf ergreifen: „Wir können damit Leben retten.“