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Politikwissenschaftler: Gemeinsamer Warnstreik ist zielführend




Wolfgang Schroeder
epd-bild/David Ausserhofer
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder findet den gemeinsamen Warnstreik von zwei Gewerkschaften am 27. März vertretbar. "Die Gewerkschaften arbeiten, soweit dies erkennbar ist, mit Augenmaß", sagte der Kasseler Professor im Interview.

Kassel (epd). Der gemeinsame Warnstreik der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Wolfgang Schroeder aus einer besonderen Lage heraus entstanden. Der Kasseler Professor verwies auf Faktoren wie die Corona-Pandemie und die hohe Inflation, die ausschlaggebend für die gemeinsamen Aktivitäten der Gewerkschaften seien. Mit Schroeder sprach Luca Kissel.

epd sozial: Ist der gemeinsame Warnstreik von ver.di und EVG so etwas wie eine Premiere?

Wolfgang Schroeder: Es ist schon etwas Besonderes, dass zwei Gewerkschaften, die bislang eher wenig miteinander zu tun hatten, gemeinsam zum Streik aufrufen. Ein Solidarstreik ist in Deutschland nicht üblich. Es ist nämlich nicht möglich für eine Gewerkschaft, ohne eigene Forderungen die Ziele einer anderen Gewerkschaft durch einen eigenen Streik zu unterstützen. Für einen Streik bedarf es eigenständiger Akteure mit einer eigenständigen Zielsetzung. Jede Gewerkschaft muss eine eigene Forderung haben, die gerade verhandelt wird. Ver.di und EVG erfüllen diese Bedingungen.

epd: Sind weitere gemeinsame Aktivitäten dieser Art erwartbar für die Zukunft?

Schroeder: Das ist offen. Der Warnstreik entstand aus einer besonderen Lage heraus. Durch die Corona-Pandemie, während der kaum öffentliche Tarifauseinandersetzungen stattfanden, konnten keine Mitglieder mobilisiert werden. Des Weiteren sind die Gewerkschaften mit der exorbitanten Inflation konfrontiert, weshalb sie im Sinne ihrer Mitglieder hohe Forderungen stellen müssen, um deren Kaufkraftverlust zu begrenzen.

Dieses Mal sitzt auch der Staat mit am Verhandlungstisch. In der konzertierten Aktion von Bundesregierung und Sozialpartnern wurde beschlossen, dass es möglich ist, eine steuerfreie Einmalzahlung in Höhe von 3.000 Euro in einem Tarifvertrag zu vereinbaren. Davon haben die Abschlüsse in der Chemie und in der Metallbranche sehr profitiert. Damit wird auch klar, dass die hohe Inflation die Tarifparteien überfordern kann und der Staat in dieser Situation flankierend unterstützen sollte. Aber auch dafür gibt es Grenzen, nicht zuletzt durch die Tarifautonomie.

epd: Sind solche koordinierten Vorgehensweisen zielführend im Hinblick auf Lohnabschlüsse und/oder ein Einlenken der Arbeitgeber?

Schroeder: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die Gewerkschaften arbeiten, soweit dies erkennbar ist, mit Augenmaß. Es handelt sich um einen Warnstreik, der ein befristeter Streik ist. Zudem wurde er frühzeitig angekündigt, womit den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt wird, sich rechtzeitig anderweitig zu organisieren. Heute ist das einfacher als in der Vergangenheit, weil viele Menschen einfach im Homeoffice bleiben können oder sich in Fahrgemeinschaften organisieren können.

epd: Sorgt das nicht dennoch für Unmut?

Schroeder: Mit Sicherheit; schließlich wird die eigene Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zugleich konnten wir in der Vergangenheit beobachten, dass die Leute diese Unzufriedenheit durchaus in eine Güterabwägung bringen können. So gab es bei den zurückliegenden Streiks in der Infrastruktur stets relativ hohe Zustimmungswerte. So haben beispielsweise den Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die den Verkehr in den vergangenen Jahren oftmals lahmlegten, meist 50 bis 80 Prozent der Bevölkerung zugestimmt. Im Vergleich zu Frankreich oder anderen Ländern zeigt sich zudem, dass es in Deutschland kaum unbefristete Streiks gibt. Dazu hat auch das Instrument der Warnstreiks beigetragen. Sie sind nicht nur befristet, sondern auch vergleichsweise ressourcenschonend. Letzteres vor allem für die Gewerkschaft, deren Streikkasse damit geschont wird. Das trug so dazu bei, bestehende Konfliktlagen besser zu lösen.

epd: In der Vergangenheit wurde oft von einem schwindenden Einfluss der Gewerkschaften gesprochen. Verfolgen diese mit ihrem aktuellen Vorgehen einen gewissen Selbstzweck?

Schroeder: Gewerkschaften brauchen Sichtbarkeit, direkten Kontakt und Mobilisierungsmöglichkeiten, die sich aus sozial mobilisierenden Konflikten ergeben. Solche Streiks sind für Gewerkschaften sehr wichtig. Sie zeigen damit, dass sozial angemessene Einkommen nicht einfach im luftleeren Raum entstehen, sondern setzen voraus, dass sich die Beschäftigten aktiv einbringen. Und diese sichtbare Bedarfs- und Interessenslage seitens der Beschäftigten wird über die Gewerkschaften artikuliert, um auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern zu agieren.

epd: Steffen Kampeter, der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sagte: „Ein Blick nach Frankreich zeigt, wohin es führt, wenn man sich auf die schiefe Ebene begibt.“ Halten Sie diesen Vergleich zu Frankreich für angemessen?

Schroeder: Das finde ich vollkommen aus der Luft gegriffen, weil das Streikvorgehen in Deutschland dem französischen diametral entgegengesetzt ist.

epd: Was bedeutet das?

Schroeder: Hier sind es verantwortliche Gewerkschaften, die zeitlich befristet zum Streik aufrufen und damit die Hoffnung verbinden, möglichst schnell und möglichst effektiv einen Tarifabschluss zu erreichen. Der Streik verfolgt keine politischen Ziele, sondern soll zu einem Vertragsabschluss führen. Deutschland ist ein streikarmes Land, und Warnstreiks haben dazu wesentlich beigetragen. Dadurch kann zwar die Häufigkeit von Streiks erhöht werden, aber zugleich reduzieren sich dadurch auch die Zahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage. Wer vor französischen Verhältnissen warnt, hat immer noch nicht begriffen, wie unsere sozialpartnerschaftliche Verhandlungsdemokratie funktioniert.