sozial-Politik

Nordrhein-Westfalen

Runder Tisch will Kinderverschickungen systematisch aufarbeiten



Bis 1990 wurden in NRW rund zwei Millionen Kinder in sogenannte Kindererholungskuren verschickt. Sie sollten dort aufgepäppelt werden, viele kamen aber traumatisiert zurück. Ein runder Tisch in NRW arbeitet die Gewalt- und Missbrauchstaten nun auf.

Düsseldorf (epd). Betroffene der sogenannten Kinderverschickungen fordern eine Aufklärung der Gewalt- und Missbrauchstaten durch Bund und Länder. Der nordrhein-westfälische Landtag unterstütze die Aufklärungsbemühungen, sagte Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 22. März. Doch die Bemühungen würden an Grenzen stoßen, weil die Organisation der sogenannten Kindererholungskuren zwischen den 1940er und 1980er Jahren über die einzelnen Bundesländer hinausgegangen und auch der Bund involviert gewesen sei. „Wir brauchen eine länderbasierte und vom Bund gesteuerte Aufklärungsarbeit“, forderte er.

Am 21. März hatte sich der Runde Tisch „Verschickungskinder“ im Landtag zur konstituierenden Sitzung getroffen. Der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) bekräftigte am Dienstagabend den Willen des Landes, die Gewalt- und Missbrauchstaten an Kindern bei den sogenannten Verschickungskuren aufzuarbeiten. Es sei „höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen“ und Ursachen sowie Umstände systematisch und umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten, sagte Laumann.

Alle Akten werden gesichert

Das Gremium vereinbarte nach Ministeriumsangaben, dass alle für die Aufarbeitung relevanten Aktenbestände gesichert werden sollen. So solle die Aufarbeitung von Leid und Traumata unterstützt werden, die Teilnehmende der sogenannten Kindererholungskuren zwischen 1949 und 1990 erfahren haben. Der Runde Tisch soll auch darüber beraten, welche weiteren Maßnahmen und Projekte für eine umfassende Aufarbeitung in NRW nötig sind und wie bestehende Aufarbeitungsbemühungen gebündelt werden können.

Lichtrauter erklärte, die Betroffenen wünschten sich konkrete und sichtbare Ergebnisse und eine unabhängige, wissenschaftliche Aufarbeitung. Viele der damaligen „Verschickungskinder“ litten noch heute unter den Folgen, die zum Teil jahrzehntelang ignoriert wurden. „Deshalb muss der Runde Tisch auch über geeignete Therapieangebote sprechen“, sagte er.

Aufklärung über Entstehung eines „rechtsfreien Raumes“

Der Jugenddezernent des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), Knut Dannat, erklärte, die Schilderungen der Betroffenen bei der Sitzung hätten „schlicht fassungslos gemacht“. Der Runde Tisch werde etwa aufklären, nach welchen Kriterien Kinder verschickt wurden, wie die „Pädagogen“ dort geschult wurden, wie Leitbild und Betreuung dort aussahen und wie der „rechtsfreie Raum“ entstehen konnte, in dem Kinder gedemütigt, bestraft, geschlagen und sediert wurden. Für die Aufarbeitung wolle der LVR die eigenen Akten sichern und der Forschung zugänglich machen. Der LVR hatte selbst keine „Verschickungskuren“ angeboten, aber die Landesjugendämter hatten Kinder zu solchen Angeboten geschickt.

Das Gremium wird vom NRW-Sozialministerium und dem Verein „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“ organisiert und von der ehemaligen Opferschutzbeauftragten des Landes, Elisabeth Auchter-Mainz, moderiert. Auch das NRW-Familienministerium, die beiden Landschaftsverbände LVR und LWL, die kommunalen Spitzenverbände, evangelische und katholische Kirche, Sozialverbände, Freie Wohlfahrtspflege, Ärztekammern, Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung und das Landesarchiv gehören dem Gremium an.

Laut einer Studie des NRW-Sozialministeriums wurden von 1949 bis 1990 von staatlichen Stellen Fahrten für über 2,1 Millionen Kurkinder aus NRW in Erholungsheime vor allem an Nord- und Ostsee organisiert. Viele dieser Kinder waren nach eigenen Berichten dort Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt und leiden zum Teil bis heute unter Depressionen und Angstzuständen. Die Berichte reichen von Strafen, Demütigungen und Essenszwang bis hin zu Schlägen, sexueller Gewalt und Medikamentenmissbrauch.

Nora Frerichmann