Hannover (epd). Tina Deeken atmet schwer aus. Die Wassertemperatur im Kleefelder Freibad in Hannover beträgt nur viereinhalb Grad Celsius. Es schneit, und es geht ein eisiger Wind. Ideale Bedingungen, um für den nächsten Wettkampf im Para-Eisschwimmen zu trainieren. Die 46-Jährige holt tief Luft und schaut auf ihre Schwimmeruhr: „Knapp über sieben Minuten.“ Diese Zeit hat die durchtrainierte Frau heute für 400 Meter gebraucht.
„Man muss beim Eisschwimmen seine Grenzen kennen und auf den Körper hören“, sagt Deeken, im Hauptberuf Förderschullehrerin an einer inklusiven Grundschule in Hannover. Denn Eisschwimmen ist ein ungewöhnlicher Sport. Erlaubt sind nur ein dünner Badeanzug, Schwimmbrille und Badekappe. Sicherheit wird großgeschrieben. Deshalb trägt sie immer eine aufblasbare Schwimmboje in einer Signalfarbe um den Bauch. So wird sie schneller gesehen und kann sich auch mal festhalten, falls sie einen Krampf bekommt.
An die Kälte des Wassers kann sich die ehrgeizige Sportlerin auch nach Jahren immer noch nicht gewöhnen. „Das ist jedes Mal eine Überwindung“, sagt sie. Doch das Eisschwimmen fordere volle Konzentration und sei gut gegen ihre Schmerzen. Deekens linkes Bein und zunehmend auch ihr linker Arm sind seit dem Jugendalter wegen eines angeborenen Hüftschadens gelähmt. Gehen kann sie nur mit zwei Stöcken und mithilfe von zwei Bein-Orthesen. „Ohne Sport säße ich schon längst im Rollstuhl“, sagt sie. Im Wasser dagegen schwimmt Deeken wie ein Fisch.
Im Jahr 2017 wurde im oberbayrischen Burghausen zum ersten Mal eine Eisschwimm-Weltmeisterschaft in Deutschland ausgetragen. Durch die Folgen der Corona-Pandemie ist der Sport populärer geworden: Weil die Schwimmbäder geschlossen waren, wichen viele Schwimmerinnen und Schwimmer aufs Freiwasser aus und blieben dabei auch im Winter. Von den etwa 5.000 Eisschwimmerinnen und Eisschwimmern aus mehr als 70 Nationen, die in der International Ice Swimming Assoziation (IISA) organisiert sind, kommen 220 aus Deutschland.
„Eine Erkältung ist für Eisschwimmer ein Fremdwort“, sagt der Mediziner Rainer Brase, der seit mehreren Jahren diesen Extremsport selbst ausübt. Am besten fange man im Herbst mit dem Eisschwimmen an, wenn das Wasser noch 18 Grad habe. Als Faustregel könne man dann bei jedem Grad Temperaturabfall eine Minute weniger schwimmen. Wenn man gesund und sich der Gefahren bewusst sei, außerdem ausreichend Sicherheitsvorkehrungen treffe, sei das eine gute Sache: „Eisschwimmen macht extrem gute Laune.“
Weil Eisschwimmen eine olympische Disziplin werden soll, waren 2022 bei den Weltmeisterschaften im polnischen Głogow von den 500 Teilnehmenden zum ersten Mal auch 30 Sportlerinnen und Sportler mit einer Behinderung zugelassen. Als einzige Para-Schwimmerin aus Deutschland qualifizierte sich Tina Deeken - und holte auf Anhieb sieben Weltmeistertitel. Diese hat die Ausnahmeathletin im Januar bei den diesjährigen Weltmeisterschaften im französischen Alpenort Samoëns verteidigt. Unter den zehn Spitzenplätzen im Para-Freiwasserschwimmen hat der Weltverband für Open Water Swimming sie als beste Frau auf Platz sieben gewählt.
„Heute gab es deshalb Post aus England“, erzählt sie ein bisschen stolz und zeigt auf die Urkunden, mit denen das Guinness Buch der Rekorde sie ausgezeichnet hat als schnellste behinderte Eisschwimmerin der Welt über 250, 100 und 50 Meter Freistil. Deeken freut sich, dass sie damit ein Zeichen für den Behindertensport gesetzt hat: „Damit wird anerkannt, dass auch Weltrekorde von Behinderten etwas wert sind.“ Denn als Para-Schwimmerin kämpft die Lehrerin auch um mehr Anerkennung für Behinderte. „Ich will Betroffene ermuntern, niemals aufzugeben.“ Und sie fügt hinzu: „Der Umgang mit Behinderung ist immer noch nicht selbstverständlich, deshalb gibt es noch genug zu tun.“
Im Sommer schwimmt sie Langstrecken, zum Beispiel 17,5 Kilometer längs durch den Wörthersee, 14 Kilometer in der Kieler Förde und auch zehn Kilometer im Oslo Fjord in Norwegen. Die 45 Kilometer durch den Ärmelkanal hat sie mit einer inklusiven Staffel von behinderten und nichtbehinderten Schwimmerinnen und Schwimmern absolviert. In der Oberweser ist sie mit einem Begleiter in Etappen mehr als 200 Kilometer zwischen Hannoversch Münden und Minden geschwommen - auch um ein Zeichen gegen die Versalzung des Flusses zu setzen.
Deeken ist zudem als Triathletin auf der Mitteldistanz aktiv: 1,9 Kilometer Schwimmen und 90 Kilometer Radfahren. Die 21 Kilometer Laufen absolviert sie mit einem Rennrolli.
Früher musste die Athletin im Winter immer ins Hallenbad ausweichen - bis sie 2018 jemand auf das Eisschwimmen aufmerksam machte. „Dann bin ich im Oktober einfach im offenen Wasser geblieben.“ Bereits zwei Monate später nahm sie zum ersten Mal an einem Eisschwimm-Wettkampf teil. Im Winter trainiert sie zweimal pro Woche bei Wind und Wetter.
Einer ihrer Begleitläufer und Begleitschwimmer ist Tobias Prüßner. Er hilft ihr ins Becken und zieht sie nach dem Training wieder heraus. Denn mit ihrem gelähmten Bein und dem geschwächten Arm schafft sie das nicht allein. Der 43-Jährige ist selbst Eisschwimmer, aber nicht behindert. Er hält die Leistung seiner Trainingspartnerin für außergewöhnlich: „Ich kenne keine Para-Sportlerin, zumindest nicht hier in Deutschland, die auf diesem hohen Niveau Marathon-Schwimmen und Triathlon im Sommer macht sowie Eisschwimmen im Winter.“