Frankfurt a.M. (epd). „Boah, da ist ja ein Bär!“, ruft Richmond mit weit aufgerissenen Augen und rennt zum Gehege. Der Neunjährige betrachtet die Bären gespannt und fragt Mathias Westermann, wie sie heißen. „Das müssten Braunbären sein“, erwidert Westermann. Richmond runzelt die Stirn, zeigt auf die Tiere und stellt fest: „Nein, die sind doch schwarz.“ Auf die Frage, warum er gerne mit dem Studenten zusammen ist, antwortet der Junge knapp: „Weil es mit ihm Spaß macht.“ Dann hastet er weiter und ruft, dass er heute im Zoo auch unbedingt eine große Schlange sehen möchte. Richmond lebt mit fünf Geschwistern in der Frankfurter Nordweststadt, einem Viertel mit schlechtem Ruf.
Der Business-Administration-Student und Richmond kennen sich durch das bundesweite Mentoringprogramm „Balu und Du“. Wie bei der Geschichte im Dschungelbuch bekommt das Kind, also der Mogli im Projekt, Orientierung und exklusive Zeit durch einen erwachsenen Ehrenamtlichen, also den Bären Balu. Die Grundschüler werden von ihrer Lehrkraft vorgeschlagen. Mitarbeitende des Programms wählen dann ein passendes Tandem aus. Die Ehrenamtlichen dürfen zwischen 17 und 30 Jahre alt sein.
Koordinator Mathias Elosge hat „Mogli“ Richmond und „Balu“ Westermann zusammengebracht. Er arbeitet für „Balu und Du“ in Frankfurt am Main. Das Projekt ist seit 2007 bei den Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität angesiedelt. Für die Wahl der beiden sei sein Bauchgefühl entscheidend gewesen, sagt Elosge, aber auch das gemeinsame Hobby: Beide spielen Fußball. Aktuell begleiten die Mitarbeitenden von „Balu und Du“ in Frankfurt 30 Tandems.
Bundesweit gibt es nach Angaben des Vereins „Balu und Du“ mit Sitz in Köln 1.249 Tandems an 164 Standorten. Die ersten drei Tandems wurden 2001 an der Universität Osnabrück gegründet. „Das Programm 'Balu und Du' ist nicht nur wirksam, sondern auch effizient“, zitiert der Verein den Bonner Verhaltensökonomen Armin Falk. „Mit Mentoring kann Chancenungleichheit kostengünstig reduziert und die sozio-emotionale Entwicklung gefördert werden.“
Im Exotarium des Zoos angekommen, ist Richmond über die Trägheit der großen Schlange enttäuscht, „die bewegt sich ja gar nicht“. Westermann zeigt ihm ein Krokodil und die giftigen Kröten. Der 21-Jährige ermahnt Richmond aber auch, als er Schildkröten durch die Scheibe erschrecken möchte.
Seit Mai 2022 treffen sich Richmond und Westermann, immer donnerstags. Das einjährige Ehrenamt umfasst für Westermann neben den wöchentlichen Treffen auch den Austausch mit Koordinator Elosge. Außerdem führt er ein Online-Tagebuch über die Treffen.
Richmond ist sehr aufgeregt. Er hüpft herum, rennt, zappelt. Während einer Pause beim Eis-Essen klopft Westermann immer mal wieder kurz auf Richmonds Oberschenkel. Dadurch beruhigt sich der Grundschüler. „Mogli“ Richmond und „Balu“ Westermann beschreiben ihre Beziehung wie die von Brüdern. Sie lachen viel, aber es wird auch deutlich, dass Westermann Führung übernimmt und Grenzen aufzeigt. Das Selbstwertgefühl und die positiven Eigenschaften des Kindes stärken, all das seien einige der Ziele des Projekts, betont Elosge.
Durch das Fußballspielen seien sie sich anfangs nähergekommen und hätten Vertrauen aufgebaut, erzählt Westermann. „Ich schieße die meisten Tore“, wirft Richmond ein. Der Student holt Richmond von der Schule, dem Hort oder von zu Hause ab. „Ich darf dann auch mal hupen und Knöpfe im Auto drücken“, erzählt Richmond stolz. Sie waren unter anderem schon gemeinsam in der Trampolin-Halle, im Schwimmbad und der Eissporthalle. Die Kosten für die Aktivitäten werden durch Stiftungen und andere Förderer unterstützt.
Für Westermann ist die Zeit mit Richmond auch wertvoll. Da der Student eine unbeschwerte Kindheit hatte, wolle er etwas zurückgeben. Sie tauschten sich über Gefühle aus, und er schätze die Gastfreundlichkeit der Familie. Denn im Anschluss an ihre wöchentlichen Treffen gehe er immer noch mit nach Hause, um gemeinsam zu Abend zu essen und mit Richmond Fußballkarten zu spielen. Richmond wirft ein: „Mathias isst so scharf, so scharf isst nicht mal meine Mutter.“ Westermann lächelt und nickt.