Berlin (epd). Nach den Insolvenzen von Teilen der privaten Pflegeanbieter Curata und Convivo werden Forderungen laut, die stationäre Pflege grundlegend anders aufzustellen. Ver.di-Sekretär Matthias Gruß wirbt für radikale Schritte, denn: „Der Betrieb eines Pflegeheims mit bestmöglichen Bedingungen einerseits und größtmöglichem Profit anderseits, das ist ausgeschlossen.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Gruß, warum kommen die allermeisten Pflegeheime finanziell über die Runden, während andere stationäre Einrichtungen in Insolvenz gehen? Grundsätzlich haben doch alle Anbieter die gleichen Bedingungen, um im Markt zu bestehen.
Matthias Gruß: Richtig, wenn man Pflegeheime dem Markt überlässt, dann ist die Folge, dass Betreiber auch pleitegehen können. Und wenn windige Geschäftsmodelle, Spekulationen und Misswirtschaft dazu kommen, dann ist die Gefahr einer Insolvenz umso größer. Daher ist es für uns nicht verwunderlich, dass jetzt kommerzielle Betreiber in Schwierigkeiten geraten und damit die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen gefährden.
epd: Was folgt für Sie aus diesen Pleiten?
Gruß: Die Pflege muss wieder am Gemeinwohl orientiert sein, nicht am Profit. Einer der Gründe, warum sich Pleiten jetzt häufen, ist, dass vor einem halben Jahr der Pflege-Rettungsschirm ausgelaufen ist. Bis dahin wurden den Einrichtungen Mindereinnahmen und Mehrausgaben von den Pflegekassen erstattet. Die Belegungszahlen sind während der Pandemie in vielen Einrichtungen gesunken. Einigen Betreibern ist es offenbar nicht gelungen, die Belegung wieder zu erhöhen.
epd: Was hauptsächlich an fehlendem Personal liegt ...
Gruß: Ja, das liegt daran, dass die Träger nicht genügend Personal finden, um das Heim wie kalkuliert zu betreiben. Der Grund dafür liegt auf der Hand: schlechte Arbeitsbedingungen treiben die Menschen aus dem Beruf. Dazu gehören eine extrem hohe Belastung der Beschäftigten aufgrund von zu wenig Personal, unverbindliche Dienstpläne und eine schlechte Bezahlung. Und: Kaum ein kommerzieller Betreiber hat einen Tarifvertrag.
epd: Was für Probleme kommen noch dazu?
Gruß: Viele Betreiber haben kein funktionierendes Ausfallmanagement, um zeitweise auftretende Personalengpässe auszugleichen. Bei Krankheitswellen, wie beispielsweise im Dezember 2022, bleibt ihnen nichts Anderes übrig, als auf externe Leiharbeit zurückzugreifen, die wiederum enorme Kosten verursacht. Hier rächt sich eine kurzsichtige und „auf Sicht fahrende“ Personalplanung. Steigende Sach- und Energiekosten, die nicht ad hoc umgelegt werden können, kommen noch hinzu. Das führt dann zu den Pleiten, wie wir sie jetzt sehen, etwa bei Curata und Convivo. Von Beschäftigten bei dem kommerziellen Betreiber Convivo werden aber auch diverse innerorganisatorische und strukturelle Probleme genannt. So kann es gut sein, dass man sich beim exzessiven Wachstum, auch während der Pandemie, schlichtweg verzockt hat.
epd: Sind diese Insolvenzen mehr als Warnsignale dafür, dass das Pflegesystem und seine derzeitige Finanzierung zu scheitern droht?
Gruß: Viele Träger in der Altenpflege zeigen schon lange, dass faire tarifvertragliche Arbeitsbedingungen und eine gute Versorgungsqualität möglich sind, auch unter den derzeitigen Bedingungen. Kommunale und gemeinnützige Träger müssen dabei aber im Gegensatz zu den kommerziellen Betreibern keine Gewinnerwartungen von Konzernen, Fonds und Finanzinvestoren erfüllen. Bei einem Pflegeheim, in dem genügend Personal eingesetzt wird, und das auf eine bestmögliche Pflegequalität setzt, sind hohe Profite strukturell ohnehin ausgeschlossen. Viele kommerzielle Betreiber machen daher Abstriche beim Personal und bei der Versorgungsqualität.
epd: Wie kann man das System reformieren?
Gruß: Es muss sich an der grundlegenden Finanzierung etwas ändern, und zwar dringend. Ver.di fordert seit Langem die „Solidarische Pflegegarantie“. Dabei zahlen alle Bürgerinnen und Bürger entsprechend ihres Einkommens ein und jeder Pflegebedürftige erhält die pflegerischen Leistungen finanziert, die er oder sie braucht - unabhängig davon, ob er oder sie stationär, teilstationär oder ambulant versorgt wird. Dazu müssten die gesetzliche und die private Pflegeversicherung zusammengeführt und auch Einkommen, die nicht aus Erwerbsarbeit stammen, einbezogen werden. Das wäre sozial gerecht.
epd: Wenn es stimmt, dass vor allem das fehlende Pflegepersonal Hauptgrund für die wirtschaftlichen Probleme ist, weil die Auslastung der Heime nicht mehr stimmt, was ist dann als kurzfristige Hilfe nötig?
Gruß: Zunächst einmal muss im Falle einer Insolvenz sichergestellt werden, dass der Heimbetrieb weiterläuft und die Menschen versorgt werden. Ein Pflegeheim ist keine Fabrik, die man von jetzt auf gleich stilllegen kann. Kreise, Kommunen, Pflegekassen und Heimbetreiber müssen dann sofort gemeinsam nach einer Lösung für den Weiterbetrieb suchen, gegebenenfalls durch einen anderen Träger. Dazu braucht es schnellstmöglich klare und verbindliche Regeln - die es bisher leider nicht gibt. Das ist ein klarer Auftrag an die Politik.
epd: Bereits in der Corona-Krise ist viel Geld zur Hilfe in die Heime geflossen. Jetzt fordern Sie weitere staatliche Unterstützung.
Gruß: Gute pflegerische Versorgung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Kosten für die Bewohner schießen unter anderem wegen gestiegener Energiepreise und der Inflation in die Höhe. Hier ist schnelles Handeln gefragt. Als Sofortmaßnahme müssen die Eigenanteile gedeckelt werden. Bei den Investitionskosten für Immobilien sind es aus unserer Sicht die Länder, die ihrer Verantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge nachkommen müssen. Das würde die Menschen schon spürbar entlasten.
epd: Sie haben es schon gesagt: Anders als DRK, AWO, Diakonie oder Caritas müssen private Träger Gewinne machen. Liegt ein Grund für die wirtschaftlichen Schieflagen darin, dass so Gelder entzogen wurden, die nun fehlen?
Gruß: Ein Pflegeheim muss finanziell in die Lage versetzt werden, eine gute Versorgung zu gewährleisten. Der Betrieb eines Pflegeheimes mit bestmöglichen Bedingungen einerseits und größtmöglichem Profit anderseits, das ist ausgeschlossen. Wer den Fokus nur auf den Profit legt, nimmt billigend in Kauf, die Bewohnerinnen und Bewohner zu gefährden und die Beschäftigten zu verschleißen. Dass das kein nachhaltiges Konzept ist, liegt auf der Hand. Es wirkt wie ein Katalysator auf die ohnehin schon angespannte Personalsituation, denn Pflegekräfte können sich ihren Arbeitgeber inzwischen frei aussuchen. Gemeinnützige Träger hingegen sind dagegen verpflichtet, Überschüsse wieder in den Betrieb des Pflegeheimes zu investieren.
epd: Sie sagen, um Pleiten von Pflegeheimen zu vermeiden, müssten künftig allein gemeinnützige oder kommunale Anbieter Versorgungsaufträge bekommen. Ist so etwas überhaupt denkbar und vor allem mit dem grundrechtlichen Eigentumsschutz vereinbar?
Gruß: Die Altenpflege ist ebenso wie die Feuerwehr, Krankenhäuser und Schulen ein grundlegender Bestandteil unserer Daseinsvorsorge - insbesondere in einer alternden Gesellschaft. Es muss eine ortsnahe und leistungsfähige ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung durchgängig gewährleistet sein. Sie darf kein Tummelplatz für Investoren und luftige Unternehmer und ihre wirtschaftlichen Experimente sein. Sie gefährden damit pflegebedürftige Menschen. Der Kommerzialisierung der Altenpflege wurde in den 1990er-Jahren mit der Einführung der Pflegeversicherung der Boden bereitet. Heute wird nur noch etwa die Hälfte der 30.000 Einrichtungen und Dienste kommunal oder gemeinnützig betrieben. Es gibt im Übrigen auch private Träger mit Einrichtungen in der Form einer gemeinnützigen GmbH. Es geht um den zweckgebundenen Einsatz von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuergeldern. Für ver.di ist klar: Ein Pflegeheim sollte keine Profite erzielen müssen - das muss genauso selbstverständlich sein wie bei einer Schule oder einer Kindertagesstätte.