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Pflege

AGVP-Chef Greiner: Wir rauschen in die Versorgungskatastrophe




Thomas Greiner
epd-bild/Clemens Hartmann
Berlin (epd). Fehlende Fachkräfte, zu geringe Auslastung der Heime: Für AGVP-Präsident Greiner ist das die Gemengelage, die private Heimträger wie Curata und Convivo in Schieflage bringen kann. Doch es gibt noch andere Gründe, wie er im Interview mit epd sozial verdeutlicht. Die Politik müsse dringend handeln. In einer der kommenden Ausgaben von epd sozial folgt ein weiteres Interview zum Thema Heime in Finanznot. Dann ordnet der ver.di-Pflegeexperte Matthias Gruß die Lage auf dem Pflegemarkt ein.

Berlin (epd). Für Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege, ist die Sache klar: „Fixe Kosten, fehlende Fachkräfte, schwache Belegung: Dieser Cocktail treibt die Heime in existentielle Nöte.“ Und zwar ganz unabhängig davon, wie die Trägerschaft ist. 2022 wurden bundesweit 107 Heime neu eröffnet, 142 Einrichtungen geschlossen, teilweise mit Insolvenzen. „Wenn wir so weitermachen, rauschen wir in die Versorgungskatastrophe“, mahnt er die Politik. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Immer wieder sind einzelne Pflegeheime zahlungsunfähig. Jetzt straucheln erstmals zwei große private Träger mit tausenden Beschäftigten. Wie ist das zu erklären, wo doch von Pflegebedürftigen und Pflegekassen verlässlich Geld fließt?

Thomas Greiner: Die Kostenträger bestimmen die Preise im Altenheim. Wenn mehr als 95 Prozent der Heimplätze belegt sind, schreibt man schwarze Zahlen. Weil Fachkräfte fehlen, sind heute viele Heime nur zu 85 Prozent ausgelastet - egal ob kirchlich, freigemeinnützig oder privat - und das trotz vieler, oft verzweifelter Anfragen alter Menschen. Doch wenn man die Fachkraftquote von 50 Prozent nicht erfüllen kann, muss man die Pflegebedürftigen abweisen. Fixe Kosten, fehlende Fachkräfte, schwache Belegung: Dieser Cocktail treibt die Heime in existentielle Nöte.

epd: Warum kommen die allermeisten Heime über die Runden, während andere stationäre Einrichtungen in Insolvenz gehen? Das verwundert, denn grundsätzlich haben doch alle Anbieter die gleichen Bedingungen, um im Markt zu bestehen.

Greiner: Ja, aber ob ein Pflegeheim schwarze oder rote Zahlen schreibt, hängt eben von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel: Sind Sie im eigenen Haus oder haben Sie einen Pachtvertrag, für den die Kosten mit dem Inflationsindex steigen? Wird das Altenheim aus anderen Bereichen des Sozialunternehmens quersubventioniert? Wie steht es mit Ihrer Liquidität, wenn Sie explodierende Energiekosten vorfinanzieren? All das sind entscheidende Fragen.

epd: Sind diese Insolvenzen mehr als Warnsignale dafür, dass das Pflegesystem und seine derzeitige Finanzierung zu scheitern droht?

Greiner: Aus dem Warnsignal der Insolvenzen darf kein Scheitern des Pflegesystems werden. Die Pflegepolitik muss raus aus ihrem Wolkenkuckucksheim und runter auf den Boden der Tatsachen. Das Angebot an Plätzen in der professionellen Altenpflege stagniert bestenfalls, die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich aber verdreifachen. Wenn Unternehmen finanziell nur knapp über die Runden kommen, investiert niemand. Die Bilanz des zurückliegenden Jahres sieht so aus: 107 Heime wurden neu eröffnet, 142 Einrichtungen geschlossen, teilweise mit Insolvenzen. Wenn wir so weitermachen, rauschen wir in die Versorgungskatastrophe.

epd: Wenn es stimmt, dass vor allem das fehlende Pflegepersonal Hauptgrund für die wirtschaftlichen Probleme ist, weil die Auslastung der Heime nicht mehr stimmt, was ist dann als kurzfristige Hilfe nötig?

Greiner: Dafür habe ich konkrete Vorschläge. Bei Pflegesatzverhandlungen muss von einer realistischen Auslastungsquote von maximal 90 Prozent ausgegangen werden. Dann muss die Fachkraftquote auf ein vernünftiges Niveau angepasst werden. Und es muss Schluss sein mit der Zeitarbeit in der Altenpflege. Denn wenn ich für eine Fachkraft 14.000 Euro monatlich an eine Zeitarbeitsfirma überweisen muss, aber nur 5.000 Euro refinanziert bekomme, dann ruiniert das meine Bilanz.

epd: Bereits in der Corona-Krise ist viel Geld zur Hilfe in die Heime geflossen. Jetzt fordert auch die Gewerkschaft ver.di weitere staatliche Unterstützung. Was sagen Sie?

Greiner: Der Staat darf nicht tatenlos zusehen, wie die Eigenanteile der Bewohner wegen höherer Personal-, Sach- und Energiekosten massiv steigen. Sonst lässt er die Pflegebedürftigen im Regen stehen. Steigende Eigenanteile führen zu geringerer Belegung - und die wirtschaftliche Lage der Heime verschlechtert sich weiter. Hinzu kommt, dass für ein Drittel der Heimbewohner das Sozialamt zahlt. Weil der Sozialhilfeträger bei den Pflegesatzverhandlungen voll auf die Bremse tritt, fehlt den Unternehmen Geld, um die explodierenden Kosten aufzufangen. Der Staat muss die Eigenanteile unbedingt begrenzen, damit nicht noch mehr Pflegebedürftige in die Sozialhilfe rutschen. Und es müssen sämtliche Kosten finanziert werden, die tatsächlich für die pflegerische Versorgung anfallen.

epd: Anders als DRK, AWO, Diakonie oder Caritas müssen private Träger Gewinne machen. Kann nicht auch ein Grund für die wirtschaftlichen Schieflagen sein, dass so Gelder entzogen wurden, die nun fehlen?

Greiner: Wohl kaum. Denn auch die gemeinnützigen Pflegeanbieter können sich dauerhafte Verluste nicht leisten und sind von Insolvenzen bedroht. Aktuelles Beispiel ist ein Seniorenheim in Bremen, das über die gemeinnützige Tochterfirma „Leben im Alter GmbH“ dem Diakonieverein Berlin-Zehlendorf gehört. Antikapitalistischen Tiraden gegen private Pflegeanbieter werden dem Ernst der Lage nicht gerecht.

epd: Kritiker gehen sogar so weit zu sagen, dass Pleiten von Pflegeheimen nur zu vermeiden seien, wenn künftig allein gemeinnützige oder kommunale Anbieter Versorgungsaufträge bekommen. Ist so etwas überhaupt denkbar und vor allem mit dem grundrechtlichen Eigentumsschutz vereinbar?

Greiner: Diese Debatten lenken vom eigentlichen Problem ab. Die Wirklichkeit lässt sich nicht rekommunalisieren. Die Einnahmen sind schlicht zu gering und laufen den galoppierenden Kosten hinterher. Es muss mehr Geld ins Pflegesystem fließen - sonst sitzen wir bald alle auf dem Trockenen, ungeachtet der Trägerschaft. Bei der stationären Versorgung haben private Träger von Pflegeheimen einen Anteil von etwa 43 Prozent. Wenn man die von heute auf morgen von Versorgungsaufträgen ausschließt, wäre das nicht nur eine kalte Enteignung. Es wäre ein unvorstellbares sozialpolitisches Desaster, wenn die privaten Anbieter dicht machen müssen.