Frankfurt a.M. (epd). Fast an jeder Mietskaserne der Siedlung lehnt ein Baugerüst. Große Schuttcontainer mit alten Waschbecken und rausgerissenen Rohren stehen zwischen den Häusern im Frankfurter Westen. Das Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf, wie es Fachleute nennen, liegt unaufgeräumt im winterlichen Nassgrau.
Das Mehrfamilienhaus, in dem Achim Kaffenberger wohnt, liegt am Rand der Siedlung. Mit schätzungsweise 30 weiteren Mietparteien lebt der 60-Jährige jetzt in direkter Nachbarschaft. Das ist neu für den groß gewachsenen Mann. Kaffenberger flüchtete, wie er selbst sagt, vor 30 Jahren auf die Straße. Aus Scham und einer Situation, die ihm ausweglos erschien, entschied er sich für die Obdachlosigkeit. „Ich wollte weg, ganz weit weg. Dann landete ich in München.“
Kaffenberger wuchs unter erschwerten Bedingungen im Odenwald auf. Nach einer komplizierten Geburt war er als Heranwachsender in seiner Entwicklung verzögert und wurde deswegen gehänselt. Er galt immer als Außenseiter, sagt er. Seine Eltern waren suchtkrank. Gewalt gehörte in der fünfköpfigen Familie zum Alltag. Als er später seine Ausbildung zum Bäcker und Konditor begann, waren alle heilfroh, dass „Achim irgendwo unter ist“, erinnert er sich.
Kaffenberger liebte seinen Beruf. „Ich bin brutal zuverlässig“, sagt er, und das wusste auch sein Chef zu schätzen. Doch irgendwann häuften sich die Hustenanfälle, die Atemnot wurde größer, wenn der Bäcker Brote und Hörnchen formte. „Mehlstauballergie“ lautete die Diagnose. Kaffenberger traf das schwer. Er wusste weder ein noch aus, packte seine Sachen und zog ohne ein Wort des Abschieds los.
Die kleine Frankfurter Wohnung im Erdgeschoss ist zweckmäßig. Es riecht nach Badreiniger und Zahnpasta. Alles ist sauber und aufgeräumt. Neben dem kleinen Flachfernseher steht ein alter Wecker, ein Relikt aus vergangener Zeit. „Der ist schon 30 Jahre alt und hat in vielen Schlafsäcken gelegen“, erzählt Kaffenberger.
Nach München folgten viele weitere Stationen. Stuttgart, Esslingen, Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main. „In den 1990er Jahren kam das Schönes-Wochenende-Ticket von der Deutschen Bahn. Damit bin ich von Stadt zu Stadt gezogen.“ Kaffenberger führte Buch, in welcher Stadt es wo Essensausgaben gibt und wo man die Tagessätze abholen kann. „Das war purer Stress“, sagt er. Übernachtet hat der Wohnungslose oft auf Friedhöfen. Das wurde vielerorts geduldet, wenn er alles sauber hielt. Morgens verstaute er sein Hab und Gut in den Leichenhallen oder in kleinen Kapellen.
Er habe immer viel Wert auf ein ordentliches Erscheinungsbild gelegt, sagt Kaffenberger, denn: „Obdachlose werden stigmatisiert.“ Obdachlosigkeit bedeute nicht immer, dass man stinkt, verwahrlost ist und besoffen auf der Straße liegt. Drogen und Alkohol waren für ihn nie ein Thema. „Wer auf der Straße lebt, kämpft mit psychischen Problemen. Da bleibt oft nur der Weg in die Betäubung.“ Auch er habe psychische Probleme, sonst hätte er nicht drei Jahrzehnte auf der Straße gelebt. Sein Geld sei ihm aber zu schade gewesen, um es für Alkohol auszugeben.
Dass er jetzt in seiner eigenen kleinen Wohnung sitze, habe er der Diakonie Frankfurt und Offenbach zu verdanken. Vor etwa zwei Jahren wurde dem damals Endfünfziger klar, dass sein Körper das Leben auf der Straße nicht länger schafft. Kaffenberger suchte Rat im Diakoniezentrum Weser5 im Frankfurter Bahnhofsviertel. Aus Angst vor Diebstahl und ansteckenden Krankheiten wollte er nicht in Sammelunterkünften und Notübernachtungsstellen haltmachen. „Ich hätte dort keine Ruhe gefunden. Ich habe mich an solchen Orten nicht sicher gefühlt.“ Kaffenberger erzählt von verbreiteter Kriminalität unter den Obdachlosen und dass jeder sich selbst der Nächste sei.
Er wurde für das neue Projekt „Housing-First“ von Stadt Frankfurt, Wohnungsgesellschaft GWH und Diakonie mit zwölf Ein-Zimmer-Wohnungen vorgeschlagen. Bei dem Projekt wird die Reihenfolge der Hilfsmaßnahmen für Wohnungslose umgedreht: Zuerst die Menschen von der Straße in eigene vier Wände holen, dann die weiteren Probleme wie Krankheiten, Sucht und Arbeitslosigkeit angehen. Im Oktober ist Achim Kaffenberger eingezogen. Er schätze es, nun einen Ort zu haben, an den er sich zurückziehen könne, wo er in Sicherheit sei, sagt er. Das Beste aber sei das eigene Bett mit einer echten Matratze.