Frankfurt a.M. (epd). Tanja Haberstroh (Name geändert) war wieder einmal Plasma spenden in Kiel. Die alleinerziehende Mutter einer elfjährigen Tochter ist auf das zusätzliche Geld angewiesen, um ihre finanzielle Situation zu verbessern. Pro Spende erhält sie eine Aufwandsentschädigung von rund 20 Euro.
Die Fahrradkurierin liefert auf Minijob-Basis Medikamente für eine Apotheke aus. Dafür bekommt sie 12 Euro die Stunde, den aktuellen gesetzlichen Mindestlohn. „Der Mindestlohn reicht absolut nicht zum Leben aus“, sagt die 40-Jährige im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie möchte zum Schutz ihres Kindes anonym bleiben.
Zum 1. Oktober 2022 stieg der gesetzliche Mindestlohn von 10,45 auf 12 Euro. Eine Erhöhung von knapp 15 Prozent. Für einen Vollzeitbeschäftigten sind das 270 Euro brutto mehr im Monat. Der höhere Mindestlohn betrifft laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mehr als jeden fünften Arbeitnehmer. Das sind mehr als sechs Millionen Beschäftigte. Die meisten davon arbeiten in den Branchen Gastronomie, Handel sowie Verkehr und Lager.
Nina Mohr (Name geändert) ist in der Kommissionierung und Verpackung für einen Großhandel in der Nähe von Hannover tätig. Die 40-Jährige ist Mutter eines 19-jährigen Sohnes, der in Ausbildung ist und zu Hause wohnt. „Mein Partner kann aktuell nicht arbeiten, was uns zusätzlich finanziell und mental belastet“, sagt Mohr.
„Die Preise, von Lebensmitteln über Energie bis hin zu Benzin, sind so exorbitant gestiegen, dass man mit 12 Euro nicht weit kommt“, sagt sie. Auch von finanziell bessergestellten Kollegen höre sie oft, dass sie kaum noch wissen, wie sie ihre Fixkosten stemmen sollen. „Altersvorsorgen und Versicherungen werden aufgelöst. Man spart ein, wo es nur geht“, erklärt sie. „Alles wird teurer, nur die Löhne bleiben niedrig.“
Im Niedriglohnsektor werde oft körperlich harte Arbeit geleistet und nicht angemessen entlohnt. „Es ist traurig und beschämend, dass man in einem reichen Land wie Deutschland nicht von seiner Arbeit leben kann“, sagt sie und wünscht sich „von Seiten der Politik mehr Gehör für die unteren Reihen“.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert eine stärkere Tarifbindung. DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell sagte dem epd: „Der Mindestlohn kann immer nur die zweitbeste Lösung sein. Wirklich gute Löhne gibt es nur mit Tarifvertrag.“ Aktuell hätten nur 51 Prozent der Beschäftigten in Deutschland einen Tarifvertrag. Die neue EU-Mindestlohn-Richtlinie nennt als Ziel eine Quote von 80 Prozent.
Der Mindestlohn wurde in Deutschland im Jahr 2015 eingeführt. Damals betrug er 8,50 Euro. Seitdem wurde er stetig erhöht. Nach dem Mindestlohngesetz schlägt im Normalfall die unabhängige Mindestlohnkommission die Anpassung der Lohnuntergrenze vor. Diese wird dann per Rechtsverordnung verbindlich. Die Kommission besteht aus Gewerkschaften und Arbeitgebern. Mit der gesetzlichen Erhöhung vom vergangenen Oktober wich die Bundesregierung von diesem Vorgehen ab.
Die gelernte Bäckereifachverkäuferin Ursula Winkler (Name geändert) hat wegen des geringen Lohns den Beruf gewechselt. „In Anbetracht der Tatsache, dass ich drei Jahre gelernt habe und in den Filialen viel Verantwortung übernehmen muss, erschien mir der Mindestlohn nicht fair“, sagt sie. Nun arbeitet sie in einem Pflegeheim des Deutschen Roten Kreuzes in Lübeck. „Ich arbeite nun nach einem Tarif des öffentlichen Dienstes und verdiene in Teilzeit fast so viel wie in Vollzeit in der Bäckerei“, sagt sie.
Die 37-Jährige kann nur in Teilzeit arbeiten, da sie ihren kranken Ehemann pflegen muss. Sie geht zwei Mal im Monat zur Tafel. Auch sie möchte anonym bleiben.
Bis zum 30. Juni 2023 entscheidet die Mindestlohnkommission über eine weitere Anpassung des Mindestlohns. In Kraft treten würde diese dann zum 1. Januar 2024.