Berlin (epd). Der Soziologe und Psychologe Kazim Erdogan ist Vorstandsmitglied des Vereins „Aufbruch Neukölln“, der in dem Berliner Stadtteil in der Sozialarbeit tätig. Er nannte ein „teuflisches Viereck“, das Faktoren für Gewalt abbilde: erstens fundamentalistische Einstellungen, zweitens traditionalistische Lebensweisen, drittens starker Nationalismus, viertens Druck des Umfelds. „Diesen Druck des Umfelds haben wir an Silvester gesehen.“ Die Fragen stellte Nils Sandrisser.
epd sozial: Herr Erdogan, in der Debatte um die Silvesterkrawalle ging es schnell um den Migrationshintergrund der mutmaßlichen Täter als Ursache für die Gewalt. Warum?
Kazim Erdogan: Manche Leute beeilen sich, Schnellschüsse zu produzieren. Es ist traurig, dass wir immer Ethnie oder Religion als Gründe benennen, wenn wir auf komplexe soziale Entwicklungen keine schnellen Antworten finden. Dass wir immer auf bestimmte Menschen mit Fingern zeigen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in einen Topf werfen. Mehr als 90 Prozent dieser jungen Menschen, deren Gewalt ich scharf verurteile, sind hier geboren und sozialisiert.
epd: Die eigentlichen Hintergründe liegen also nicht in ethnischen, sondern in sozialen Gegebenheiten?
Erdogan: Richtig. Als ich in einer Grundschule unterrichtet habe, konnte ich bei den Schülern, die leistungsmäßig nicht mitkamen, beobachten, dass sie den Unterricht massiv gestört haben. Warum? Sie waren leistungsmäßig nicht aufgefallen, aber sie haben durch Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, dass sie auch da sind. Sie wollten auf sich aufmerksam machen. Dieses Beispiel lässt sich auf die Entwicklung in der Silvesternacht übertragen. Diese jungen Leute sind hier in ihrem ganzen Leben nie positiv aufgefallen. Wenn jemand die Schule ohne Abschluss verlässt, keine Arbeit hat und nicht in gutsituierten Kreisen lebt, kann unter normalen Bedingungen kein positives Selbstbild entstehen. Die Identität dieser Leute ist nicht gefestigt. Sie sind immer auf der Suche nach einer Identität.
epd: Und deswegen lassen sie sich so leicht von Gruppenprozessen fortreißen?
Erdogan: In den Gruppen fühlt man sich stark. Dieses Gefühl der Stärke führt dazu, dass diese Leute ihr Verhalten nicht unter die Lupe nehmen. Alle machen das ja mit. Und das kann so eine Sache eskalieren und unkontrollierbar werden lassen.
epd: Es ging da auch um darum, Selbstwirksamkeit zu erleben?
Erdogan: Ja. Diese Leute haben gedacht: „Wir sind in der Gesellschaft nicht aufgefallen, sind immer unsichtbar. Jetzt ist die Chance da, jetzt zeigen wir uns.“ Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass in diesem Jahr sehr viele Böller gekauft und eingesetzt worden sind.
epd: Hat das mit den Corona-Beschränkungen der vergangenen zwei Jahre zu tun?
Erdogan: Es gab schon eine Sehnsucht nach Exzess. Zwei Jahre gab es teilweise Isolation, Angst und Verunsicherung. Und jetzt ganz plötzlich - ich übertreibe jetzt ein wenig - die Luft der Freiheit.
epd: Es scheint in diesen Gruppen eine klare Neigung zur Gewalt zu geben. Warum ist das so?
Erdogan: Gewalt als Thema ist bei den Menschen, mit denen ich arbeite, ein Dauerbrenner. Ich spreche gern von einem „teuflischen Viereck“, das Faktoren für diese Gewalt abbildet: erstens fundamentalistische Einstellungen, zweitens traditionalistische Lebensweisen, drittens starker Nationalismus, viertens Druck des Umfelds. Diesen Druck des Umfelds haben wir an Silvester gesehen. Das waren gruppendynamische Prozesse, keine geplanten Aktionen gegen den Staat.
epd: Warum genau waren denn bevorzugt Rettungskräfte die Ziele der Gewalt?
Erdogan: In so einer Atmosphäre der Befreiung sucht man unterbewusst nach Feinden. In diesem Moment waren die Rettungskräfte und Feuerwehrleute Feinde.
epd: Wie löst man die Integrationsprobleme in den Kiezen langfristig?
Erdogan: Was wir gesehen haben, sind Ergebnisse der Kommunikations- und Sprachlosigkeit. In normalen Zeiten beschäftigen wir uns nicht mit diesen sozial benachteiligten Menschen und ignorieren sie. Wir sollten auch in normalen Zeiten mit ihnen kommunizieren, durch aufsuchende Arbeit und direkte Begegnung. Wenn ich ihnen sage: „Ich spreche dich an, du bist für mich wichtig als Mensch“, dann werde ich als Kazim Erdogan für sie zu einer Vertrauensperson. Und dann hat mein Wort auch bei ihnen Gewicht. Runde Tische, wie die Gewerkschaft der Polizei sie vorgeschlagen hat, das unterstütze ich aus ganzem Herzen. Dass man regelmäßig alle gesellschaftlichen Gruppen zu Gesprächen einlädt: Elternhäuser, Bildungseinrichtungen. Migrantenselbstorganisationen, Moscheevereine. So entstünde ein Wir-Gefühl.
epd: Diese Vorschläge betreffen den Komplex der Identität. Wie bekommt man den Komplex der Gewalt in den Griff?
Erdogan: 97 Prozent der Menschen geben das weiter, was sie erlebt haben. Hatten sie in ihren Elternhäusern Zuwendung und Aufmerksamkeit, geben sie das weiter. Haben sie Ausgrenzung, Abwertung, Drohung und Missachtung erfahren, geben sie das weiter. Und die meisten Menschen, über die wir hier sprechen, haben Gewalt erlebt. Das müssen wir im Gespräch mit ihnen thematisieren. Zu mir kommen auch Mörder oder Väter, die ihre Kinder massiv geschlagen haben. Wenn ich ihnen übermitteln kann, wie schlimm Gewalt ist, dann weinen sie stundenlang.