"In einer der reichsten Industrienationen der Welt über Armut und Ungleichheit zu sprechen, löst Unbehagen aus. Schließlich muss ja - scheinbar - in Deutschland niemand hungern. Und auch niemand auf der Straße leben. Uns geht es doch gut. Das führt zu einer gesellschaftlichen Diskussion, bei der Armut zu oft mit Faulheit, Versagen und Schicksal gleichgesetzt wird. Doch worüber reden wir hier eigentlich?
Natürlich ist niemand in Deutschland so arm wie eine Kleinbauernfamilie im dürregeplagten Somalia oder eine Witwe mit drei Kindern in den Trümmern ihres Hauses in Syrien. Aber Armut ist nicht nur absolut, Armut ist auch nicht nur materiell. Armut hat immer auch eine relative Ebene: Wenn alle außer mir es sich leisten können, ins Kino zu gehen oder sich in der großen Pause eine heiße Schokolade gönnen, dann leide ich als junger Mensch in Deutschland unter den Folgen meiner Armut. Beziehungsweise der Armut meiner Eltern - auch wenn ich daran nicht verhungere.
In der aktuellen Debatte um das Bürgergeld entblößt sich jedoch ein ganz anderer Blick auf Armut. Die Ampelkoalition plant die Erhöhung der Regelsätze und damit der Existenzminima. Bestimmte Vermögensbeträge sollen zeitweise erhalten bleiben, so dass diese erst nach einem Jahr Leistungsbezug angetastet werden. Über all diese technischen Maßnahmen ist eine sachliche Diskussion möglich: Welche Existenzminima angemessen sind, lässt sich empirisch festlegen. Über die Wirkung von Sanktionen gibt es ausreichend Forschungsergebnisse. Und das Bedrohungsszenario des Vermögensverlustes trifft ohnehin nur einen kleinen Bruchteil der Leistungsbezieher und -bezieherinnen, denn ein Großteil verfügt gar nicht über entsprechende Vermögenswerte.
Das bedeutet aber auch: Die aktuelle Debatte ist für den Großteil der davon betroffenen Menschen eine Scheindebatte. Worum geht es aber eigentlich, wenn wir über Armut sprechen? Es geht darum, dass es scheinbar in Ordnung ist, wenn führende Politiker in Deutschland ihre strenge Haltung zur Reform des Bürgergelds damit rechtfertigen, dass sie ja auf der Seite der Menschen stehen, die etwas leisten würden … und damit offenbaren, dass für sie Menschen in Armut nichts leisten. Nichts leisten können oder gar wollen.
Diese Haltung karikiert Armut und die Erfahrungen der Menschen, die in Armut leben. Und zeigt ganz deutlich, dass diese keine Lobby haben und keine Mitsprache am politischen Diskurs.
Aus praktischer Erfahrung wissen wir, dass Armut viele Facetten hat. SOS-Kinderdorf arbeitet seit Jahrzehnten in Sozialräumen, in denen besonders viele Menschen von Armut betroffen sind. Unser Engagement gilt dabei vor allem Kindern und ihren Familien in benachteiligten Lebenslagen. Eine Ursache für diese Benachteiligung ist Arbeitslosigkeit oder ein Familieneinkommen unterhalb des Existenzminimums, sprich Armut.
Insbesondere Familien mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende sind von Armut betroffen. Sie sind im SGB-II-Bezug deutlich überrepräsentiert. Dass diese Einkommensarmut mit Bildungsrisiken einhergeht, zeigt der Bildungsbericht 2022 eindrücklich. Der Bildungsbericht spricht von drei Risikolagen, die sich negativ auf Bildungserfolge auswirken: Ein soziales Risiko liegt vor, wenn nicht mindestens ein Elternteil erwerbstätig ist. Ein finanzielles Risiko existiert, wenn das Familieneinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Und dann gibt es noch das Risiko formal gering qualifizierter Eltern, wenn nicht mindestens ein Elternteil eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Hochschulreife aufweist.
Unter den Kindern, die in Haushalten von Alleinerziehenden aufwachsen, weisen 56 Prozent mindestens eine dieser Risikolagen auf, 40 Prozent leben in einer finanziellen Risikolage. In Familien mit Migrationshintergrund sind 35 Prozent von finanziellen Risiken betroffen und 48 Prozent betrifft mindestens eine Risikolage.
Das heißt: Armut ist nach Familienformen ungleich verteilt. Und wer diesen Menschen unterstellt, dass sie individuell nicht ‚fleißig‘ seien oder man ihnen nur genügend Sanktionen auferlegen müsse, damit sie einer Arbeit nachgehen, hat die Lebensrealitäten armutsbetroffener Familien nicht verstanden oder ignoriert sie.
Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass die meisten Eltern in Armut an allem sparen, nur nicht an ihren Kindern. Im Juni 2022 lebten 1,9 Millionen Unter-18-Jährige in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, davon 924.000 in Alleinerziehenden-Haushalten. 2018 waren von den Leistungsbezieher im SGB II nur 37 Prozent tatsächlich arbeitslos. Alle anderen befanden sich in Maßnahmen, waren erwerbstätig, in Ausbildung oder Erziehungszeiten.
Diese Eltern mühen sich im Alltag ab, viele haben mehr als einen Job und doch reicht es nicht. Sie müssen unzählige Amtsgänge, Formulare und Fragen über sich ergehen lassen, bis sie Sozialleistungen erhalten.
Von den unter dreijährigen Kindern, die nicht in ihren Familien aufwachsen können, stammen 82 Prozent aus Familien im Transferleistungsbezug. Das bedeutet, dass Armut ein entscheidender Faktor für das Aufwachsen von Kindern darstellt und sogar dazu führen kann, dass Kinder aus ihren Familien genommen werden.
Vor diesem Hintergrund findet nun wieder einmal eine öffentliche Debatte statt, die sich anmaßt, über den Arbeitswillen dieser Menschen zu urteilen. Es werden empiriefreie Thesen in den Raum gestellt, die Vorurteile befeuern und über alle Menschen im Leistungsbezug urteilen, ohne vermutlich selbst jemals Kontakt zu Menschen in Armut aufgenommen zu haben.
Was uns fehlt, ist eine respektvolle Auseinandersetzung in einem gesellschaftlichen Miteinander - alle Menschen in Deutschland sind Teil dieser Gesellschaft, ob arm oder reich, dick oder dünn, autochthon oder zugewandert. Es ist Merkmal einer solidarischen Gesellschaft, dass wir füreinander Verantwortung übernehmen.
Natürlich kann es nach der Einführung des Bürgergelds sein, dass Menschen sich auf die faule Haut legen und das Bürgergeld kassieren, ohne ein Interesse daran zu haben, je wieder zu arbeiten. Eine Verschärfung der Sanktionen oder eine Kürzung ihrer Dauer wird daran nichts ändern - jedes menschengemachte System wird von einzelnen Menschen ausgenutzt werden. Unsere Gesellschaft ist stark genug, dies auszuhalten.
Was unsere Gesellschaft aber nicht aushalten kann: Die despektierliche und menschenfeindliche Diskussion über „die Armen“. Dass diese Debatte aber geführt wird, ohne die Lebensrealitäten anzuerkennen, zeigt vor allem, dass es am Interesse an einer echten Auseinandersetzung fehlt.
Es ist wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte zur Solidarität führen. Ein ständiges Polarisieren auf Kosten derer, die sich nicht wehren können, ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade in den Nachwehen einer Pandemie und auf dem Weg in eine Rezession kann nur eines diese Gesellschaft zukunftsfähig machen: Ein starkes Wir, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und die Sicherheit, dass die Meinungen und Nöte angehört werden, unabhängig vom Kontostand.