Luxemburg (epd). Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen muss nach EU-Recht ein „erhöhter Schutz“ gewährt und die Familienzusammenführung mit den im Nicht-EU-Ausland lebenden Eltern ermöglicht werden. Dazu gehört, dass auch eine in einer Kinderehe verheiratete minderjährige Jugendliche die Zusammenführung mit ihrer im Libanon lebenden Mutter ermöglicht werden muss, urteilte am 17. November der Europäische Gerichtshof (EuGH). Für das Recht auf Familienzusammenführung müsse das Kind nicht unverheiratet sein, betonten die Luxemburger Richter.
Damit kann die Klägerin, eine im Libanon lebende palästinensische Mutter einer minderjährigen Tochter, auf ein Visum zur Familienzusammenführung hoffen. Die Tochter hatte im Alter von 15 Jahren im Libanon geheiratet. Gut acht Monate später floh sie alleine als „unbegleitete Minderjährige“ nach Belgien. Als die belgischen Behörden sie am 26. September 2018 als Flüchtling anerkannten, beantragte ihre Mutter zweieinhalb Monate später ein Visum zur Familienzusammenführung.
Die zuständige Behörde, der Beauftragte des Ministers für Soziale Angelegenheiten, Volksgesundheit, Asyl und Einwanderung, lehnte den Visumantrag ab. Die Tochter sei bereits nach libanesischem Recht in einer Kinderehe verheiratet worden. Damit gehöre sie nicht mehr zur Kernfamilie der Eltern. Eine Familienzusammenführung scheide aus. Keine Rolle spiele es hier, dass die Kinderehe in Belgien nicht anerkannt werde.
Die Klägerin argumentierte dagegen, weder das belgische Ausländergesetz noch die maßgebliche EU-Richtlinie 2003/86 würden als Voraussetzung für eine Familienzusammenführung verlangen, dass der unbegleitete minderjährige Flüchtling unverheiratet ist. Der belgische Rat für Ausländerstreitsachen legte das Verfahren dem EuGH zur Prüfung vor.
Die Luxemburger Richter betonten, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einen besonderen Schutz bedürften. Sowohl nach der EU-Richtlinie als auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta gebe es eine Verpflichtung zur Zusammenführung. Es würde diesem Schutzzweck zuwiderlaufen, wenn unbegleiteten Minderjährigen die Familienzusammenführung wegen einer geschlossenen Kinderehe versagt bliebe.
Die besondere Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen werde durch das Bestehen einer Ehe auch nicht abgeschwächt. „Vielmehr könne eine eingegangene Ehe, besonders bei minderjährigen Mädchen, darauf hindeuten, dass sie Kinderehen oder Zwangsehen ausgesetzt seien“, betonten die Richter.
Der EuGH hatte auch in früheren Urteilen immer wieder das Recht der Familienzusammenführung betont. So urteilte das oberste EU-Gericht am 1. August 2022, dass deutsche Behörden die Visaerteilung zur Familienzusammenführung nicht vom Zeitpunkt der Asylanerkennung des Flüchtlingskindes abhängig machen dürfen. Vielmehr könnten sich Flüchtlinge bereits mit der Asylantragstellung die Perspektive auf eine Zusammenführung von Eltern und Kindern sichern.
In den Verfahren ging es um unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder, die in Deutschland Asyl beantragt hatten und als Flüchtlinge anerkannt wurden. Daraufhin hatten sie noch als Minderjährige den Familiennachzug ihrer noch in Syrien lebenden Eltern beantragt. Die deutschen Behörden entschieden darüber jedoch erst, als die Kinder bereits volljährig waren. Die Volljährigkeit war dann auch der Grund für die Ablehnung der Anträge. Die Kinder seien ja nun nicht mehr schutzbedürftig. Ein Recht auf Familienzusammenführung bestehe dann nicht.
Dem widersprach der EuGH. Maßgeblich für das Recht auf Familienzusammenführung sei, dass das Kind zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war und nicht zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung über die Visaerteilung. Denn ansonsten könnten Behörden einfach Verfahren bis zur Volljährigkeit in die Länge ziehen und dann den Antrag ablehnen.
Ähnlich hatte der EuGH bereits am 12. April 2018 entschieden. Eine spätere Volljährigkeit stehe dem Recht auf Familiennachzug nicht entgegen. Den Antrag auf Familiennachzug müssten die betroffenen Flüchtlinge allerdings in der Regel innerhalb von drei Monate nach ihrer Flüchtlingsanerkennung stellen, urteilte damals das Gericht.
Das Bundesverfassungsgericht entschied zudem am 20. Juni 2016, dass auch ein abgeschobener Asylbewerber sein Recht auf Familienzusammenführung vor Gericht überprüfen lassen kann. Lehnen Behörden eine Familienzusammenführung des abgeschobenen Flüchtlings mit der seit Jahren in Deutschland lebenden Familie mitsamt minderjährigen Kindern ab, muss er sich gerichtlich dagegen wehren können. Liegen Anhaltspunkte für eine „außergewöhnliche Härte“ vor, müssen Gerichte Prozesskostenhilfe gewähren. Solche schwierigen Rechtsfragen könnten nur im Hauptsacheverfahren geklärt und dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, so die Karlsruher Richter.
Az.: C-230/21 (Europäischer Gerichtshof, Familienzusammenführung Kinderehe)
Az.: C-273/20 und C-355/20 (Europäischer Gerichtshof, Asylantragstellung)
Az.: C-550/16 (Europäischer Gerichtshof, spätere Volljährigkeit)
Az.: 2 BvR 748/13 (Bundesverfassungsgericht)