

Remagen/Köln (epd). „Es lässt sich für alles eine Lösung finden.“ So formuliert Irmgard Wyborny ihr Lebensmotto. Die Remagenerin ist Contergangeschädigte mit verkürzten Armen - und muss über die Frage, was sie nicht allein schaffe, nachdenken. „Wenn ganz oben im Regal Bücher zu holen sind, dann brauche ich Hilfe“, antwortet die 61-Jährige dann. Wyborny arbeitet als Bibliothekarin für die Stadt Aachen. Und das mit Freude, wie sie betont.
Wyborny ist eine von rund 5.000 Betroffenen in Deutschland, die zwischen den Jahren 1956 und 1962 mit verkürzten Gliedmaßen oder geschädigten inneren Organen zur Welt kamen. Der Grund: Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das damals als harmlos eingestufte Schlafmittel Contergan der Firma Grünenthal eingenommen. Erst Ende 1961 wurde das Mittel vom Markt genommen. Es war der Wirkstoff Thalidomid, der Schädigungen beim Ungeborenen hervorruft. Schon eine einzige Tablette reichte dafür aus. 40 Prozent der Kinder starben noch im Säuglingsalter.
„In den 1960er Jahren fand Inklusion nur durch Eigeninitiative statt“, blickt Wyborny auf ihre Kindheit zurück. Allein das Engagement ihrer Sonderschullehrerin habe sie davor bewahrt, in der Schullaufbahn „steckenzubleiben“: Die Pädagogin habe sie in einem kirchlichen Gymnasium untergebracht. In der Berufswahl habe man als Contergangeschädigte natürlich realistisch sein müssen, so sagt es die 61-Jährige: „Chirurgin hätte ich also nach dem Abitur nicht werden können.“ Sie studierte Bibliothekswesen. Und kann sich bis heute auf die Hilfe der bundesweiten Conterganstiftung verlassen. „Die Stiftung hat etwa durch ihre monatlichen Zahlungen viel für uns getan“, erklärt Wyborny.
Die heute dem Bundesfamilienministerium zugeordnete Stiftung mit Sitz in Köln war vor 50 Jahren, am 31. Oktober 1972, in Bonn als „Hilfswerk für behinderte Kinder“ gegründet worden. Das Stiftungskapital setzte sich zusammen aus 100 Millionen D-Mark, die die Firma Grünenthal nach einem juristischen Vergleich zahlte, und dem gleichen Betrag aus dem Bundeshaushalt. Seit 1997 erfolgt die Zahlung der vielfach erhöhten Renten komplett vom Bund. Seit der vierten Gesetzesänderung im Jahr 2017 wird der spezifische Bedarf Geschädigter durch Pauschalzahlungen gedeckt.
Der Conterganskandal sei eine Katastrophe gewesen, erklärt Dieter Hackler, Vorstandsvorsitzender der Stiftung. Der evangelische Theologe war bis 2014 Ministerialdirektor im Familienministerium. Aktuell sei die Stiftung für rund 2.500 Geschädigte im In- und Ausland zuständig, habe für sie eine Beratung aufgebaut und fördere bundesweit multidisziplinäre medizinische Kompetenzzentren. „Die Trauer der Betroffenen, ihre Leiden, ihre Schmerzen, ihre Verletzungen kann die Conterganstiftung jedoch nicht aufheben. Sie kann nur Ausdruck dafür sein, dass die Bundesrepublik Deutschland sich ihnen gegenüber in der Verantwortung sieht.“
Aktuell sehe die Stiftung sich durch das zunehmende Alter der Betroffenen vor neue Herausforderungen gestellt. „Auf die müssen wir reagieren“, sagt der Vorsitzende. Zum einen müsse man gewährleisten, dass die Betroffenen sachgerecht medizinisch versorgt blieben. Zum anderen dränge die Frage: „Welche Wohnformen sind im Alter für Menschen mit Einschränkungen und hohem Autonomiedenken angemessen, vor allem, wenn sie allein leben?“ Und drittens müsse eine psychosoziale Begleitung sichergestellt werden. „Zu diesen Themen berufen wir eine Expertenkommission unter Einbeziehung der Menschen mit Conterganschädigung ein.“
Zum Skandalthema von 2019, als Medien berichteten, die Conterganstiftung wolle Opfern in Brasilien die Rente streichen, erklärt Hackler: Die Stiftung sei dem Steuerzahler verpflichtet. Deshalb habe sie auch für diese 60 Betroffenen erst ein Anhörungsverfahren durchführen müssen. Er betont: „Die Conterganstiftung hat schließlich keinem Betroffenen die Rente entzogen, keine Zahlungen gekürzt oder Zuwendungen ausgesetzt.“
Seit Jahren kritisieren Opferverbände jedoch, dass die Stiftung nicht paritätisch besetzt ist. Aktuell arbeitet beispielsweise im dreiköpfigen Stiftungsvorstand nur eine Betroffene mit. Die Bundesregierung hat sich deshalb Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag die „Prüfung einer Reform der Strukturen der Conterganstiftung zur Ermöglichung von mehr Mitsprache der Betroffenen“ zur Aufgabe gemacht.
Bei der Bibliothekarin Irmgard Wyborny jedenfalls ist keine Verbitterung zu spüren. „Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint“, sagt die 61-Jährige. Sie habe durch Contergan nicht wie viele andere innere Schäden davongetragen. Sie könne selbstbestimmt leben, sagt die Mutter zweier erwachsener Töchter: „Und das ist doch das Wichtigste.“