sozial-Branche

Inflation

Interview

Diakonie: Finanzierung der Pflege reformieren




Christoph Stolte
Frieder Weigmann/Diakonie Mitteldeutschland
Inflation und Energiekrise setzen die Sozialwirtschaft massiv unter Druck. Angesichts der Kostensteigerungen fordert der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, neue Finanzierungsmodelle.

Erfurt (epd). Die Diakonie Mitteldeutschland fordert, die Finanzierung der Pflege zu reformieren. Die Pflegebedürftigen sollten einen Festbetrag als Anteil an den Gesamtkosten zahlen, sagte der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, im epd-Interview. Das helfe zu vermeiden, dass stationär Pflegebedürftige mit zusätzlichen Belastungen durch Energiekosten und Inflation überfordert werden. Mit Stolte sprach Matthias Thüsing.

epd sozial: Herr Stolte, wo liegen die Schwächen bei der derzeitigen Finanzierung sozialer Dienstleistungen?

Christoph Stolte: Im Grundsatz funktionieren die Beziehungen zwischen Versicherten, den Anbietern von sozialen Leistungen und den Kostenträgern. Nicht zufriedenstellend gelöst ist allerdings vielfach das Problem, wer bei unvorhergesehenen Kostensteigerungen die Mehrkosten bezahlen muss. Das wird besonders deutlich in der stationären Altenpflege. In der Pflege übernimmt die Pflegekasse einen festen Betrag je nach Pflegegrad. In der Pflegestufe 2 sind das 770 Euro. Den Rest müssen die Bewohner und Bewohnerinnen aufbringen.

epd: Das heißt, Inflation und Energiekostensteigerungen gehen vollständig zulasten der Pflegebedürftigen?

Stolte: Ja. Und wenn Sie wissen, dass ein durchschnittlicher Pflegeheimplatz 1.700 Euro in Thüringen kostet und heute schon deutlich über dem heutigen Rentenniveau liegt, werden viele unserer Klienten und Klientinnen Steigerungen von 200 oder 400 Euro nicht bezahlen können.

epd: Wer kommt stattdessen für die erhöhten Kosten auf?

Stolte: Erst wird geschaut, ob Angehörige einspringen müssen. Wenn das nicht möglich ist, werden die Kommunen als Sozialhilfeträger einspringen müssen, die selbst unter enormem finanziellen Druck stehen. Dabei war es ein zentrales Argument bei der Einführung der Pflegeversicherung vor fast 30 Jahren, dass pflegebedürftige Menschen im Alter nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein sollten.

epd: Was könnte in dieser Situation helfen? Ein Rettungsschirm?

Stolte: Das hilft für den Moment. Aber was wir darüber hinaus fordern, ist eine Umkehrung der Finanzierung.

epd: Was bedeutet das?

Stolte: Ich erkläre es am Beispiel der Teilkasko in der Kfz-Versicherung: Da zahlt der Versicherte einen festen Betrag und die Versicherung den Rest - egal, ob der Schaden groß oder klein ist. Dahin sollten wir bei der Pflegeversicherung auch kommen. Das wurde in der Bundesregierung intensiv diskutiert. Doch die Debatte brach ab, als Corona kam.

epd: Wie stark müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung für diesen Systemwechsel steigen?

Stolte: Ich kann keine Modellrechnung für ganz Deutschland nennen. Zumal neben den Beträgen zur Pflegeversicherung ja auch ein erheblicher Teil zur Finanzierung der Pflege aus dem allgemeinen Steueraufkommen aufgebracht wird. Das ist sinnvoll, weil nicht jede Person in Deutschland in die Pflegeversicherung einzahlt. Und unabhängig von den Kosten: Letztlich ist das eine Frage des politischen Willens. Wir hoffen, dass die jetzige Bundesregierung das Thema wieder aufgreift, anstatt mit kleinen Gesetzesänderungen an Symptomen der Unterfinanzierung herumzudoktern.

epd: Müssten die Bestimmungen für die Sozialwirtschaft einer gründlichen Revision unterzogen werden?

Stolte: Nein, das nicht. Aber es bedarf der Anstrengung, dass die sozialen Dienstleistungen, die zur staatlichen Daseinsvorsorge gehören, auskömmlich finanziert werden. Wir kritisieren etwa, dass Teile der Sozialwirtschaft in den gewerblichen Bereich übergegangen sind. Es müssen im Sozialbereich nicht Aktionäre befriedigt werden.

epd: Geht es dabei um Pflege- und Klinikkonzerne?

Stolte: Beispielsweise. Wenn wir die gesamte Sozialwirtschaft wieder in die Gemeinnützigkeit zurücknehmen, bleibt das Geld immer im System. Zumal es immer noch soziale Dienste gibt, für die es überhaupt keine gesetzlichen Finanzierungsverpflichtungen gibt, beispielsweise die Tafeln. Die haben gerade einen riesigen Zulauf. Die Inflation steigt, Armut nimmt zu. Aber die Tafeln stehen finanziell auf unglaublich wackeligen Finanzierungsmodellen. Manche Kommunen geben freiwillig Zuschüsse. Aber sie dürfen das per Gesetz nur so lange machen, wie sie selbst nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Hier trifft es also die Ärmsten der Gesellschaft. Genauso sieht es auch bei Wärmestuben oder Bahnhofsmissionen aus.

epd: Dürfen diakonische Einrichtungen diese Angebote unterstützen?

Stolte: Die meisten Unternehmen der Sozialwirtschaft sind gemeinnützige Gesellschaften. Das heißt, sie dürfen keine Gewinne machen, nicht einmal nennenswerte Rücklagen ansparen, um finanzielle Krisenwinter wie diesen zu überstehen. Es ist aber auch so, dass viele Gesellschaften nicht imstande sind, Gewinne zu machen, weil sie heute schon fehlende Mittel durch Spenden kompensieren müssen. Trotzdem sollten wir die Möglichkeit, Rücklagen aufzubauen, einmal grundsätzlich diskutieren.