Berlin (epd). Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, zeigt sich erfreut darüber, dass die von der Bundesregierung eingesetzte unabhängige Gaskommission in der Energiekrise einen Hilfsfonds für die sozialen Dienstleister empfiehlt. Finanzielle Hilfen seien unerlässlich, sagte Lilie im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Denn Einrichtungen stünden vor gravierenden Liquiditätsproblemen, es drohten Insolvenzen. Die Fragen stellte Markus Jantzer.
epd sozial: Welche Erwartungen haben Sie an diesen Hilfsfonds: Was muss er leisten und gewährleisten?
Ulrich Lilie: Die Diakonie Deutschland begrüßt ausdrücklich, dass die Kommission die soziale Infrastruktur als elementar wichtig für die Bewältigung der Energiekrise anerkennt. Beratung und Unterstützung in sozialen Schwierigkeiten, funktionierende gesundheitliche und pflegerische Versorgung, Betreuung, Begleitung und Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familie, kurzum das professionelle Netz gemeinnütziger sozialer Arbeit vermittelt soziale Sicherheit und den Zusammenhalt, den unsere Gesellschaft braucht, um die sich überlagernden Krisen dieser Monate zu bewältigen.
epd: Wie dringend ist eine solche Finanzhilfe?
Lilie: Die Dienste und Einrichtungen der Diakonie sind bereits jetzt teilweise mit drastisch erhöhten Gas- und Strompreisen sowie höheren Kosten für Lebensmittel und Fremdleistungen konfrontiert. Kostenträger reagieren unterschiedlich auf die offensichtlich völlig veränderten Kalkulationsgrundlagen und die Notwendigkeit nachzuverhandeln. Die diakonischen Träger haben aufgrund des Gemeinnützigkeitsrechts keine Möglichkeit, in größerem Umfang Rücklagen anzulegen. Entsprechend schnell stehen sie vor gravierenden Liquiditätsproblemen und Insolvenzgefährdung. Der geplante Hilfsfonds ist unerlässlich. Zusätzlich wird es aber unerlässlich sein, auch diejenigen Kostensteigerungen aufzufangen, die sich derzeit als Folge von Energiekrise und Inflation ergeben.
epd: Wie muss der Hilfsfonds ausgestaltet sein?
Lilie: Wir erwarten bei der Ausgestaltung des Hilfsfonds, dass in den über Vergütungsvereinbarungen refinanzierten Leistungsbereichen beschleunigte Nachverhandlungen ermöglicht werden. Der Bund muss für eine gesetzliche Grundlage sorgen, die die Verhandlungsposition der Leistungserbringer so verbessert, dass in kurzer Frist angemessene Lösungen gefunden werden. Dazu könnte der Bund einerseits die - befristete und nachträglich widerlegbare - Vermutung festlegen, dass die aktuellen preislichen Verwerfungen eine „wesentliche Veränderung der Annahmen“ und damit einen Wegfall bzw. Störung der Geschäftsgrundlage bedeuten, so dass Nachverhandlungen nicht einfach abgelehnt werden können. Eine Reduktion der Verhandlungsfristen sowie die Beschleunigung und Vereinfachung des Schiedsstellenverfahrens sollte andererseits zudem dafür sorgen, dass rechtzeitig eine Lösung gefunden wird.
epd: Aber nicht alle Dienste finanzieren sich gleich ...
Lilie: Viele soziale Bereiche sind nicht über Entgelte refinanziert. Dazu zählen beispielsweise die Schuldner- und Insolvenzberatung, die Frauenhäuser oder die Bahnhofsmission. Wichtig ist, dass der Hilfsfonds auch solchen Einrichtungen und Diensten zugutekommt, die keine Versorgungsverträge nach dem Sozialgesetzbuch abschließen, sondern über Fördermittel refinanziert werden.
epd: Wann müssen die ersten Hilfsgelder fließen?
Lilie: Da viele der eben angesprochenen mittelbaren Kosten bereits jetzt als Inflationstreiber spürbar sind und weder in die ausgehandelten Vergütungen einkalkuliert werden konnten noch an die Kundinnen und Kunden weitergeben werden können, gilt, dass eine unbürokratische Hilfe so schnell wie möglich einsetzen sollte. Mit Blick auf die Gaspreiskosten gehört es zu den Besonderheiten dieser Krise, dass das volle Einsetzen der Belastungen von den individuellen Versorgungsverträgen abhängt, die gerade nicht alle zu einem bestimmten Termin auf höhere Preise umgestellt werden. Wann genau die Energiekostenerhöhungen wirksam werden, hängt von den individuellen Versorgungsverträgen ab. Wir rechnen aber damit, dass spätestens ab Anfang Januar 2023 die Preiserhöhungen alle Einrichtungen erreicht haben.
epd: Wie kann der Fonds schnelle Hilfe sichern?
Lilie: Wir gehen davon aus, dass der Hilfsfonds ergänzend zu der Gaspreisbremse zum Tragen kommen wird und es ermöglichen wird, Mehrkosten zu kompensieren, die sich als Folge von Energiekrise und Inflation ergeben. Auch diese können unsere gemeinnützigen Mitgliedseinrichtungen weder aus Rücklagen noch über die Weitergabe von Preisen an Kundinnen und Kunden decken. Neben diesen besonderen Hilfsinstrumenten halten wir gesetzliche Verbesserungen im System der Vergütungsvereinbarungen für dringend notwendig, die die bestehenden Vertragssysteme agiler machen und es erlauben, bestehende Verträge schnell und angemessen an unvorhersehbare Entwicklungen anzupassen.
epd: Welche Rolle kommt hier den Bundesländern zu?
Lilie: Nicht nur die Bundesländer, sondern auch die Kommunen tragen Verantwortung für die Sicherung der sozialen Infrastruktur. Dieser Verantwortung müssen sie dort, wo sie für die Finanzierung zuständig sind, gerecht werden. Was jedoch unbedingt zu vermeiden ist, ist ein wechselseitiger Verweis auf die Zuständigkeit der jeweils anderen föderalen Ebenen. Die sozialen Leistungserbringer brauchen eine gemeinsame, konzertierte Kraftanstrengung, um wirksame Schutzmechanismen für die Dienste und Einrichtungen zu etablieren. Wenn die Fachhaushalte der Länder das sich ergebende Delta nicht abfedern können, muss der Bund die notwendigen Mittel über den Fonds bereitstellen.
epd: Welche sozialen Dienstleister sollten nach Ihrer Ansicht bezugsberechtigt sein?
Lilie: Der vorliegende Vorschlag der Expertenkommission ist an dieser Stelle erfreulich weit gefasst und bezieht ausdrücklich zum Beispiel auch Sozialkaufhäuser ein, die sich anders als Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser oder Reha-Kliniken refinanzieren. Wichtig ist, dass der Hilfsfonds auch solchen Einrichtungen zugute kommt, die sich etwa über Fördermittel refinanzieren.
Zu denken ist auch daran, dass die Strom- und Heizkosten beispielsweise von Frauenhäusern und Beratungsstellen durch die Sozialleistungen der Bewohnerinnen und Bewohner bzw. durch pauschale Förderung refinanziert werden. Es muss sichergestellt sein, dass nicht nur Einrichtungen mit sozialversicherten Nutzerinnen und Nutzern profitieren. Viele durch die Kommunen finanzierte Leistungen sind sogenannte „freiwillige Leistungen“. Da die Kommunen selbst die gestiegenen Energiekostenpreise bewältigen müssen, sehen sich die Träger solcher Angebote vor schwierigen und wenig erfolgversprechenden Verhandlungen.
Bei den Corona-Schutzschirmen hat es eine Weile gedauert, für die unterschiedlich finanzierten sozialen Leistungen jeweils passende Schutzmechanismen zu finden. Diese Zeit haben die Einrichtungen gegenwärtig nicht.