Esslingen (epd). Der Beratungsbedarf wegen Essstörungen nimmt zu, die Betroffenen werden imm- er jünger. So ganz neu ist diese Entwicklung nicht: Als Ende der 1990er Jahre immer mehr Betroffene Hilfe suchten, rief Roland Kachler, Leiter der damaligen Psychologischen Beratungsstelle Esslingen, die einzige spezialisierte Fachstelle für Essstörungen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ins Leben. Zwölf Jahre lang wurde diese „Anlauf- und Beratungsstelle für Essstörungen“ komplett über Spenden finanziert, dann übernahm der Landkreis Esslingen die Finanzierung einer 50-Prozent-Stelle.
15 Jahre lang hat Barbara Hammann dort beraten, nun hat die 64-Jährige ihre Aufgaben an Micaela Neumann übergeben. Gab es anfangs noch etwa 75 Erstgespräche im Jahr, sind es aktuell 80 bis 90. „Das ist das höchste, was leistbar ist“, sagt Hammann. Die Auslastung sei immer am Anschlag. Gerne hätte Uwe Stickel, seit Februar 2022 Leiter des heutigen Diakonischen Beratungszentrums, noch eine weitere Stelle, hofft erneut auf Spender und Sponsoren. „Wir sollten mehr für die Prävention tun, in die Schulen und ins Jugendhaus gehen, und wir sollten uns das Thema ‚junge Männer‘ nochmals ansehen“, sagt er.
Zwar kommen rund 90 Prozent weibliche Personen und nur zehn Prozent männliche Personen zur Beratung. Doch das spiegle nicht die Verteilung der Betroffenen wider, ist Hammann überzeugt: „Jungs tun sich schwerer, Beratung zu suchen. Sich nur noch von Eiweißshakes zu ernähren, ist auch eine Essstörung.“ Männliche Muskelsucht statt Magersucht? Bei Jungs gebe es beides, sagt Hammann. Und Jungs seien oft noch radikaler, gerieten noch schneller in einen lebensbedrohlichen Bereich. „Wir haben es mit Leben und Tod zu tun.“
Je früher eine Essstörung entdeckt werde, sagt Neumann, desto größer sei die Chance zur Heilung. „Es ist wichtig, das nicht zu übersehen. Es gibt große Hemmungen, das anzusprechen.“ Deshalb berät die Anlaufstelle Essstörungen nicht nur Betroffene, sie berät und schult auch Eltern, Lehrer und Schulsozialarbeiter.
„Es gibt keine alleinige Ursache für Essstörungen“, sagt Hammanns Nachfolgerin, Micaela Neumann. Eine wesentliche Ursache sei Druck: „Ich muss gut sein, ich muss perfekt sein.“ Bei Menschen mit eigenen traumatischen Erlebnissen wirke dieser Druck als Trigger. „Kein Mensch will mittelmäßig sein“, sagt Hammann, jeder wolle sich hervorheben.
„Wir haben in der Gesellschaft viele Menschen, die aus der Balance geraten sind“, sagt Stickel. „Essen, Alkohol, Drogen, Aggressionen. Wir wollen beraten und stabilisieren, helfen, die Dinge auszubalancieren, das kann auch im Gruppengespräch sein.“ Alle drei Gesprächspartner betonen den Unterschied zwischen Beratung und Therapie. Essstörungen seien eine schwere psychosomatische Erkrankung, die oft stationär behandelt werden müsse, sagt Hammann. Oft helfe eine Beratung, die Angst vor einer Therapie abzubauen. Zudem biete die Beratung eine lange Konstanz: „Manche Menschen habe ich 15 Jahre lang begleitet. Ganz niederschwellig, ohne irgendwelche Anträge.“
Wie können Angehörige und Freunde Betroffenen begegnen? „In der Beziehung bleiben, aber nichts beschönigen“, rät Hammann. Keine Appelle, nichts bewerten, sondern bei den eigenen Gefühlen bleiben: „Ich mache mir Sorgen, wenn ich dich anschaue.“