Der Pflegereport 2022 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK kritisiert, dass in deutschen Pflegeheimen gerade in der letzten Lebensphase zu wenig auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner eingegangen wird. Jede fünfte befragte Pflegefach- oder Assistenzperson erlebt laut Pflegereport monatlich oder häufiger, dass Bewohner am Lebensende zum Beispiel in ein Krankenhaus eingewiesen werden, obwohl das aus Sicht der Befragten nicht im besten Interesse der Versterbenden ist. Die Mehrheit der Befragten gibt zudem an, dass sie beobachten, dass sich auf Druck der Angehörigen das Behandlungsteam für belastende beziehungsweise lebensverlängernde Maßnahmen entschieden habe, obwohl die Patientenverfügung ein anderes Vorgehen nahegelegt hätte.
Auch in den Einrichtungen der Diakonie Bethanien machen wir solche Beobachtungen. Und das, obwohl wir bereits sehr viel dafür tun, dass Angehörige und Pflegekräfte sich in ihrem Handeln sicher fühlen. Damit wir möglichst genau wissen, was sich unsere Bewohner auf dem letzten Lebensweg wünschen, haben wir bereits vor Jahren dafür Strukturen und Beratungsangebote aufgebaut, die unsere Altenpflege eng mit Palliativpflege und unseren Seelsorgeangeboten verknüpfen.
Eine enge Verknüpfung von Pflege und Medizin mit einer individuellen und umfassenden Beratung finden wir sehr wichtig. Denn so individuell wie jede Geburt, so individuell ist auch das Sterben eines jeden Menschen. Gerade in der letzten Lebensphase können Menschen in Situationen gelangen, in denen sie ganz plötzlich nicht mehr selbst entscheiden können, was sie sich für ihr Lebensende wünschen. Wenn in so einer Situation die Menschen um sie herum jedoch genau wissen, was zu tun ist, wenn es ihnen nicht gut geht, nimmt das sowohl ihnen selbst als auch den Angehörigen eine Last und viele Ängste.
Deshalb besuchen wir jede Person, die bei uns einzieht, und sprechen intensiv mit ihr über das Sterben und den Tod. Und darüber, was ihnen auf dem letzten Lebensweg wichtig ist. Das ist nicht unbedingt ein Thema, das auf Anhieb für Begeisterung sorgt. Einige Menschen sind skeptisch und möchten sich nicht mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Andere wiederum sind froh, dass endlich jemand da ist, der das Ungesagte ausspricht.
Zentrale Fragen in diesen Gesprächen sind zum Beispiel: Was bedeutet für Sie ein würdevolles Leben? Was gibt Ihnen Trost und Halt? Was ist Ihnen im Umgang mit Ihrer Person wichtig? Daraus entwickeln sich ganz individuelle Gespräche, die am Ende dazu führen, dass wir ein klares Bild davon haben, wie derjenige seinen letzten Lebensweg gehen möchte.
Sogar wenn unsere Bewohner bereits beim Einzug nicht mehr in der Lage sind, ihren Willen für ihren letzten Lebensweg zu äußern, ermitteln wir auf Wunsch oftmals in Gesprächen gemeinsam mit dem Bevollmächtigten und den Angehörigen den mutmaßlichen Willen. Dass wir uns diese Zeit auch in dieser besonderen Situation nehmen, ist für viele Angehörige ein großes Geschenk, das sie dankbar annehmen.
Doch warum machen das laut Pflegereport 2022 viele andere Pflegeheime nicht wie wir in der Diakonie Bethanien? An der Finanzierung allein kann es nicht liegen. Die ist in §132g SGB V geregelt und durchaus fair angelegt. Zwar sind wir auch dort - wie in vielen Bereichen der Gesundheitsbranche - weit weg von einer vollständigen Refinanzierung durch die Krankenkassen. Ein Großteil der Kosten wird jedoch abgedeckt.
Es liegt also vielmehr am Willen und an der Haltung der handelnden Personen. Und hier meinen wir ausdrücklich nicht die Kolleginnen und Kollegen in der Pflege. Vielmehr sind die Träger und Betreiber der Seniorenzentren gefragt, ihre Arbeit nicht vom Profit aus zu denken, sondern den Menschen (wieder) in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen.
Oft hören wir von anderen Trägern, dass sie Mitarbeitende in die Weiterbildung schicken, die augenscheinlich zwar für die Beratung qualifiziert sind, jedoch in erster Linie erst einmal „ausgemusterte“ Pflegekräfte sind, für die man eine neue Verwendung brauchte. Ebenso hören wir von Pflegekräften, die zwar die Weiterbildung erfolgreich abgeschlossen haben, ihr Wissen und ihre Hilfen aber nie anwenden können, weil sie Personalengpässe in den Einrichtungen auffangen müssen.
Hier zeigt sich einmal mehr der Unterschied zwischen privatwirtschaftlichen Betreibern und diakonisch geprägten Trägern wie der Diakonie Bethanien. Wir fragen nicht zuerst danach, was wir mit einer Leistung verdienen. Wir fragen uns zuerst, was wir tun können, um alten, schwachen und kranken Menschen bis zuletzt ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Ganz so wie es unsere Diakonissen vor 126 Jahren das erste Mal in unserem und in Gottes Namen und Auftrag taten.
Doch selbst wir, die den Willen dazu und die ureigene Haltung haben, stoßen hier und da an Grenzen, die wir alleine nicht überwinden können. Selbst wir kommen in Einzelfällen in eine Lage, in der wir den Bewohner in ein Krankenhaus bringen lassen müssen, obwohl wir wissen, dass der Patient nicht in einem Krankenhaus sterben möchte. Nämlich dann, wenn ein akuter gesundheitsbedrohender Zustand eintritt und wir nicht auf den Hausarzt des Bewohners zugreifen können, weil die Situation außerhalb von Sprech- oder Notdienstzeiten des Arztes entsteht.
Der Wunsch eines Bewohners auch in plötzlichen Krisen keinesfalls in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden, besteht sehr oft. Aber ist es nicht unterlassene Hilfeleistung von Angehörigen und Pflegekollegen, einen Bewohner in dieser Situation in der Einrichtung zu lassen? Diese Frage stellt sich vor allem dann, wenn eine Situation auftritt, die vorher eben nicht ganz genau so festgelegt wurde.
Hat der Bewohner beispielsweise Magenbluten und es wurde nichts für diesen expliziten Fall festgelegt, werden ihn Angehörige und Pflegekollegen sicherheitshalber ins Krankenhaus einweisen lassen. Dort angekommen wird er wahrscheinlich ein Magenschutz-Medikament erhalten und das Krankenhaus wieder verlassen. Im Nachhinein war die Einweisung überflüssig, aber in der Situation war niemand vor Ort, der das entscheiden konnte und wollte.
Deshalb plädieren wir für feste interdisziplinäre Notfallteams aus Ärzten und Palliativpflegekräften, die vor Ort tätig und mit der gesundheitlichen Vita der Bewohner vertraut sind. Leider sieht der Gesetzgeber solche Teams nicht vor. Bereitschaftsärzte können diese Lücke nicht schließen, ebenso wenig die Hausärzte, die vielerorts überlastet sind.
Einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung aus dem Jahr 2021 zufolge könnten im Jahr 2035 bundesweit knapp 11.000 Hausarztpraxen unbesetzt sein. Schon 2021 waren rund 3.500 benötigte Praxen in Deutschland unbesetzt. Junge Ärzte bevorzugen laut Studie statt Einzelpraxen zunehmend Angestelltenverhältnisse und Teilzeitmodelle. Es liegt an den politischen Entscheidungsträgern, Anreize zu schaffen, diesen - nicht nur am Lebensende - fatalen Mangel zu beseitigen.