Kassel (epd). Hartz-IV-Aufstocker dürfen ihr Arbeitslosengeld II mit Trinkgeldern aus ihrer Beschäftigung als Servicekraft aufstocken. Wenn die monatlichen Trinkgelder allerdings mehr als zehn Prozent des Regelbedarfs ausmachen, sind diese ab diesem Wert als Einkommen vom Jobcenter mindernd auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen, urteilte am 13. Juli das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Derzeit liegt der Hartz-IV-Regelsatz für einen alleinstehenden Arbeitslosengeld-II-Bezieher bei monatlich 449 Euro, so dass ihm bis zu 44,90 Euro an Trinkgeldern verbleiben dürfen.
Im konkreten Fall hatte eine Hartz-IV-Aufstockerin aus dem bayerischen Landkreis Deggendorf höheres Arbeitslosengeld II verlangt. Sie erhielt im Streitzeitraum von Dezember 2014 bis einschließlich April 2015 neben geringen Arbeitslosengeld-I-Leistungen auch ergänzendes Hartz IV zur Deckung ihres Existenzminimums.
Beim Jobcenter Deggendorf gab sie auch eine kleine Nebenbeschäftigung als Servicekraft in einem bayerischen Wirtshaus an. Dort verdiente sie zunächst 50 Euro und zuletzt 144,50 Euro monatlich. Schätzungsweise 25 Euro kamen an Trinkgeldern hinzu.
Die Behörde wertete unter anderem nach Berücksichtigung des Grundfreibetrags das Trinkgeld als Einkommen und minderte entsprechend das Arbeitslosengeld II. Das Trinkgeld stehe im engen Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit und werde regelmäßig gezahlt, so die Behörde. Es diene in der Regel der Aufbesserung des Grundgehalts. Das Trinkgeld sei daher dem Arbeitsentgelt vergleichbar. Einnahmen in Geld seien nach dem Gesetz als Einkommen zu berücksichtigen
Als die Hartz-IV-Bezieherin die Höhe ihrer Hilfeleistung anzweifelte, stellte sie einen Überprüfungsantrag. Sie sah nicht ein, dass das Jobcenter ihr monatliches Trinkgeld als Einkommen mindernd auf das Arbeitslosengeld II angerechnet hatte.
Vor Gericht wandte sie ein, dass Gäste gar kein Trinkgeld mehr bezahlen würden, wenn das Jobcenter dies als Grund für die Minderung des Arbeitslosengeldes II ansehen würde. Außerdem handele es sich hier nicht um ein reguläres Erwerbseinkommen. Dies bestehe vielmehr bei einem Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin, nicht aber zwischen Trinkgeldgeber und -nehmer.
Trinkgelder seien vielmehr Zahlungen von dritten Personen, für die es keine „sittliche und rechtliche Verpflichtung“ gebe. Entsprechende Zuwendungen dürften nach dem Gesetz nicht als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden, wenn dies „für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre“ oder der Anspruch auf die Hartz-IV-Leistung trotz des erhaltenen Geldes - hier die Trinkgelder - immer noch gerechtfertigt wäre.
Hier seien die Trinkgelder nicht sehr hoch gewesen. Die Klägerin verwies zudem auf die Rechtsprechung des BSG. Dieses habe in einem Fall entschieden, dass „Motivationszuwendungen“, die freie Wohlfahrtsträger Sozialhilfe-Beziehern für die Teilnahme an einer Arbeitstherapie zahlen, tatsächlich auch motivieren sollen und in gewissen Grenzen nicht als Einkommen mindernd auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden dürfen. Danach seien 60 Euro pro Monat anrechnungsfrei. Ähnliches müsse auch für Trinkgelder gelten.
Die Klage hinsichtlich der Anrechnung der Trinkgelder hatte vor dem Bayerischen Landessozialgericht keinen Erfolg. Trinkgelder seien Einnahmen, die beim Arbeitslosengeld II mindernd berücksichtigt werden müssten. Zwar sehe das Gesetz durchaus vor, dass bei grober Unbilligkeit Einkünfte nicht angerechnet werden dürfen. Dies sei bei Zuwendungen der Fall, die nicht der Deckung des physischen Existenzminimums dienten, etwa gesellschaftliche Preise zur Ehrung von Zivilcourage oder Soforthilfen bei Katastrophen. Trinkgelder würden dagegen für die erbrachte Serviceleistung gezahlt und dienten dem Lebensunterhalt.
Es handele sich bei den Trinkgeldern auch nicht um Zuwendungen, die „die Lage des Leistungsberechtigten nur unmaßgeblich“ beeinflussen und damit nicht berücksichtigt werden müssen. Dies sei etwa bei einem geringen Taschengeld der Großeltern der Fall. Eine solche Nähe gebe es aber nicht zwischen Trinkgeldgebenden und Trinkgeldempfänger.
Das BSG gab der Klägerin jedoch dem Grunde nach recht, so dass das Jobcenter neu über die Arbeitslosengeld-II-Höhe entscheiden muss. Bei Trinkgeldern handele es sich um eine Zuwendung und nicht um reguläres Erwerbseinkommen, da diese freiwillig gezahlt werden. Sie seien nicht mit einem Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vergleichbar.
Die gesetzlichen Bestimmungen würden vorsehen, dass geringe „Zuwendungen“ nicht beim Arbeitslosengeld II berücksichtigt werden müssen. Die Zahlung von Arbeitslosengeld II müsse dann aber trotz der erhaltenen Zuwendung noch gerechtfertigt sein.
Dies sei hier der Fall, so das BSG. Die obersten Sozialrichter legten dabei erstmals auch eine Grenze fest, bis zu welcher Höhe Zuwendungen nicht berücksichtigt werden müssen. Dies sei regelmäßig bei zehn Prozent des Regelbedarfs der Fall. Da die Klägerin unter diesem Wert lag, durfte das Jobcenter die Trinkgelder nicht mindernd auf das Arbeitslosengeld II anrechnen, so das Gericht.
Inwieweit auch Einkünfte aus Pfandflaschensammeln, Betteln oder erhaltene Essensspenden von den Tafeln darunter fallen, hatte das BSG nicht zu entscheiden.
Az.: B 7/14 AS 75/20 R (Bundessozialgericht, Trinkgelder)
Az.: B 8 SO 12/11 R (Bundessozialgericht, Motivationszuwendungen)