sozial-Branche

Armut

Auf der Straße gezeichnet




Verlassenes Nachtlager eines Obdachlosen
epd-bild/Rolf Zöllner
Aus Mitgefühl und Neugier griff Sabine Roidl zum Bleistift und porträtierte Menschen, die obdachlos sind. Ihre Zeichnungen und Texte sind Momentaufnahmen aus einem Lebensalltag, den die meisten ausblenden.

München (epd). Jeder sieht sie, kaum einer beachtet sie: Über 9.000 Menschen sind in der Landeshauptstadt München wohnungslos, schätzungsweise 1.000 davon leben auf der Straße. Ein Leben, das in ein paar Plastiktüten passt. Ein Leben, von dem die Gemeinschaft wenig Notiz nimmt. „Ich habe mich immer gefragt: Wie kann es sein, dass jemand obdachlos ist?“, sagt Sabine Roidl. Die Illustratorin beschloss, sich dem Thema auf ihre Weise zu nähern und Obdachlose in München zu porträtieren. Daraus ist ein Buch geworden.

Obdachlos und schwanger

E sind Welten, die zwischen den Menschen auf der Straße und den anderen liegen. „Mein Wendepunkt war die schwangere junge Frau auf dem Viktualienmarkt“, erinnert sich Roidl. Ihre Fassungslosigkeit schlägt sich im Anfangssatz des Kapitels über „Marianne“ nieder: „Sie ist schwanger und schläft auf der Straße.“ Dreimal steht der Satz da, als wäre die Platte einer Lebensgeschichte hängengeblieben.

Sabine Roidl hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Obdachlose in den Räumen des Evangelischen Bildungswerks gezeichnet. Ebw-Geschäftsführer Felix Leibrock, selbst ehrenamtlich in der Obdachlosenarbeit tätig, hatte ihr die Möglichkeit vermittelt. Doch dann kam der Lockdown und mit den bezahlten „Sitzungen“ war es vorbei.

Also musste die Künstlerin selbst auf die Straße, um die Menschen für ihr Buchprojekt zu finden - nicht so leicht für Roidl, die sich selbst als introvertiert beschreibt. Als sie Marianne sah, war ihr klar: „Wenn ich einen Kontakt herstellen will, muss ich runter auf den Boden.“ Und als sie dort saß, neben der Bettlerin, zwischen all den eilenden Passanten, da spürte sie, wie anders dieses glänzende München sein kann. „Ich bin da unten so schief angeschaut worden“, erinnert sich Roidl. Sie habe sich in dem Moment der Obdachlosen näher gefühlt „als denen mit den Tüten“.

„Meine Scheu hat sich gelegt“

Ursprünglich wollte die Künstlerin mit Atelier in Grafing die Menschen nur zeichnen. Doch während sie schweigend ihre Porträtnotizen mit dem Bleistift machte, begannen ihre Modelle zu erzählen. Wie man die eigene Obdachlosigkeit auf Familienfeiern kaschiert. Wie man auch ohne Geld in die Oper kommt. Wie es ist, auf die Räumung der eigenen Wohnung zu warten. Wie sehr man sich über zehn Euro freuen kann. Wie viel Menschlichkeit in einem Handschlag oder einem Lächeln steckt.

Sabine Roidl hat die Geschichten aufgeschrieben, sobald sie nach Hause kam. Und so hat jedes Porträt nicht nur sein eigenes Gesicht, sondern auch seine eigene Stimme behalten - mal leise, mal forsch, mal lamentierend, mal charmant. „Meine Scheu hat sich gelegt, als mir klar wurde, dass ich keine Obdachlosen zeichne, sondern Menschen, die obdachlos sind“, sagt sie. Am meisten überrascht habe sie „die Dummheit meiner Vorurteile“. Wie schnell sich die Abwärtsspirale des Lebens drehen kann, auch das hat sie gehört: „Ich bin sehr dankbar, dass ich ein Zuhause habe.“

Die Klammer des Buches liefert die Geschichte von Franz, dem Lebenskünstler. Er ist der heimliche Star, witzig, quirlig, offen für die Welt. Am Ende ist er tot. Gestorben an seinem Stammplatz am Isartor, Organversagen. Für Sabine Roidl war das ein Schock: „Ich hatte nicht auf dem Schirm, dass man nicht lange auf der Straße leben kann.“

Sterben auf der Straße

Das letzte Kapitel erzählt also nicht vom Leben, sondern vom Sterben auf der Straße, von unverhoffter Hilfsbereitschaft und von der Leerstelle des Todes. Roidl machte mit Hilfe eines Polizisten und einer Bestatterin die Heimatstadt von Franz ausfindig, den Tag der Beerdigung, den Namen seiner Mutter. Sie hinterließ ihre Telefonnummer - gern hätte sie der Mutter von Franz erzählt. „Aber sie hat sich nie gemeldet“, sagt Roidl nachdenklich.

So bleiben viele lose Enden. „Ohne Dach, ohne Ofen, ohne Bett“ ist eine Sammlung eindrucksvoller Momentaufnahmen, die den Sesshaften und Privilegierten der Gesellschaft einen Einblick in das Leben von obdachlosen Menschen ermöglicht. Im besten Fall sind Leserinnen und Leser nach der Lektüre berührt - das wäre Sabine Roidl schon genug. Nicht jeder sei für ein Ehrenamt in der Obdachlosenarbeit geschaffen. Wer Geld übrig habe, könne spenden. Oder sich für Konzepte wie das „Housing first“ einsetzen, bei dem Obdachlose eine Wohnung bekommen. „Niemand kann auf die Beine kommen ohne Schlafen in Sicherheit“, ist Roidl überzeugt.

Sie selbst geht seit dem Buch anders durch die Stadt - den Blick weniger auf Schaufensterhöhe mit all dem „Zeug, das man nicht braucht“. Ihr Blick rutscht eine Etage tiefer, dorthin, wo diejenigen leben, die mit der Schaufensterwelt schon lange nichts mehr zu tun haben.

Susanne Schröder