Hannover (epd). Chiko verschwindet in seinem schwarzen Hoodie. Die Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt, die Kapuze in die Stirn gezogen, fixiert er die Tischplatte. Eigentlich wollte der 15-Jährige von sich erzählen: Wie es ihm geht, warum er nicht mehr zur Schule geht, wie er sich seine Zukunft vorstellt. Jetzt scheint alle Energie aus ihm gewichen. „Ich bin faul und kiffe zu viel“, sagt er und fügt leise an: „Schule ist doch eh scheiße.“ Seine Mutter habe schon etliche Male Bußgeld gezahlt, weil er nicht im Unterricht erschien, er selbst müsse Sozialstunden ableisten. „Viele haben wegen Corona angefangen zu schwänzen“, sagt er.
Chiko hat recht. Das Problem „Schulvermeidung“ hat Experten zufolge durch die Pandemie zugenommen. Die Situation sei alarmierend, sagt Thomas Thor, Leiter der „Fachstelle Schulvermeidung“ der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Region Hannover: „Corona wirkte wie ein Katalysator, zahlreiche Schüler sind während Lockdown und Homeschooling unter dem Radar geblieben und zum Teil komplett abgetaucht.“
Sozialpädagoge Thor und seine Kollegen sprechen von Schulvermeidung oder -absentismus, weil „Schwänzen“ ihrer Ansicht nach falsche Assoziationen weckt. „Schwänzen“ klinge harmlos, spielerisch, selbstbestimmt. Es klinge nach einer Stunde Eisdiele statt einer Stunde Mathe. Wer kennt das nicht? Doch darum geht es bei Chiko und den anderen schon lange nicht mehr. Chiko war seit Ewigkeiten nicht mehr in der Schule. Wie lange, weiß der Junge, der eigentlich die achte Klasse einer Realschule besuchen müsste, selbst nicht.
Auf jeden Fall hat er die von dem hannoverschen Jugendpsychiater Markus Just definierte Marke gerissen: „Ab 40 entschuldigten Fehltagen pro Halbjahr liegt ohne weitere plausible Erklärung ein pathologischer Schulabsentismus vor“, schrieb Just in einer Stellungnahme für die AWO im Jahr 2015.
Doch wie zurückfinden in die Schule, wenn die ohnehin fragile Tagesstruktur durch den Lockdown über lange Zeit vollends zusammengebrochen ist? Wenn es um Selbstdisziplin, Verlässlichkeit und Motivation noch nie gut bestellt war? Wenn die Eltern keine Stütze sind? Das Homeschooling habe die ohnehin stark ausgeprägte Abhängigkeit des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft verstärkt, sagt Förderpädagoge Heinrich Ricking, Professor an der Universität Leipzig. „Erfolgreicher digitaler Unterricht erfordert ein förderliches Umfeld und stabile Unterstützungsstrukturen.“
Chiko besucht nun seit fünf Wochen das Projekt „Glashütte“ der AWO in Hannover. Acht Plätze bietet der außerschulische Lernort, der 13- bis 17-Jährige sozialpädagogisch und ergotherapeutisch unterstützt. Die Jungen und Mädchen kommen täglich für vier Stunden - freiwillig. Von neun bis 13 Uhr haben sie Deutsch, Mathe, Englisch, Sozialkunde, Werken, Kochen. Es gibt viele Pausen, einen Tischkicker, keine Prüfungen, wenig Druck. Schule light - zum Angewöhnen. Chiko gefällt es. „Immerhin stehe ich morgens wieder auf“, sagt er.
Björn Brödtler unterrichtet seit sieben Jahren in der „Glashütte“. Mobbing, exzessiver Medienkonsum und damit einhergehend ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, soziale Phobien und Isolation - das seien einige der Probleme, die dazu führten, dass Kinder nicht mehr zur Schule gingen. „Schulvermeidung ist ein Symptom, nicht die Ursache“, sagt er.
Die AWO geht Schulvermeidung ganzheitlich an. Außer der „Glashütte“ gibt es das Beratungsbüro „Konnex“ für Schüler, Lehrer, Eltern sowie ein Präventionsprojekt an neun Partnerschulen. Ziel: Durch Zusammenarbeit mit Lehrern gefährdete Schüler und Schülerinnen frühzeitig identifizieren. „Ich wünsche mir, dass Lehrer sensibel hinschauen und sich alle Akteure, Lehrer, Jugendämter, Sozialarbeiter, besser vernetzen“, sagt Brödtler.
In der „Glashütte“ bleiben die Jugendlichen zwischen sechs und neun Monate. So lang will Chiko nicht bleiben. Er macht bereits Pläne. Die Frage nach seinen Träumen lässt ihn wachsen, er strafft den Rücken und blickt auf. Erzieher wolle er werden und nach Warschau ziehen, in die Heimat seiner Familie. „Dort sind die Leute lustiger und das Essen billiger“, sagt er. Und wenn er einen Wunsch frei hätte? Jetzt blitzen Chikos Augen. „Ich schreibe Rap-Songs, wenn die mal in Clubs laufen würden - das wäre krass.“