sozial-Branche

Heimerziehung

Bedrückende Einsichten der diakonischen Paulinenpflege




Buch über Gewalterfahrungen in der Paulinenpflege
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Am Anfang stand eine Ahnung. Dann folgte ein Hinweis. Jetzt liegt aufgearbeitet zwischen Buchdeckeln vor, was junge Menschen in der diakonischen Paulinenpflege in Winnenden zwischen 1945 und 1983 an Gewalt erlitten - ein beklemmendes Zeugnis.

Winnenden (epd). Schläge und noch mehr Schläge für Kinder und Jugendliche, die sich nicht anpassten. Prügeleien mit Verletzungen bis zur Arbeitsunfähigkeit. Sexuelle Übergriffe unter Jungen und von jungen Männern auf Mädchen und Frauen. Einweisungen in die Psychiatrie. Berichte über ausgeübte Gewalt hat der Historiker Sebastian Wenger in Archivakten der diakonischen Paulinenpflege Winnenden entdeckt und in Zeitzeugengesprächen erfahren. Im jetzt von der Paulinenpflege herausgegebenen Buch „Gewalterfahrungen von hörenden und gehörlosen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Paulinenpflege Winnenden von 1945 bis 1983“ dokumentiert er aktenkundig gewordene Missbrauchs- und Misshandlungsfälle und ordnet sie ein.

Keine Ausnahme

Es hat lange gedauert, bis das Thema „Missbrauch in Heimen“ für die Paulinenpflege konkret wurde. „Je mehr über die Verhältnisse in anderen Einrichtungen und Heimen bekannt wurde, desto größer wurde die Ahnung bei uns, dass wahrscheinlich auch die Paulinenpflege keine Ausnahme gewesen ist“, erklärt Marco Kelch, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Paulinenpflege. Zunächst aber schien in Winnenden die Welt in Ordnung gewesen zu sein: „Ein Aufruf an Betroffene auf unserer Homepage im Jahr 2010 ergab keine Rückmeldungen.“

Dann kam das Jahr 2018. Ein ehemaliges Heimkind meldete sich. Ihm selbst war nichts passiert, aber die Person berichtete von Gewalt gegen andere Kinder, die sich dann auch belegen ließ. Nachforschungen ergaben zudem, dass sich bei der Anlaufstelle des „Fonds Heimerziehung“ in den vergangenen Jahren 15 Menschen aus der Paulinenpflege gemeldet hatten. Die Anlaufstelle hatte die Hinweise nicht weitergegeben.

Die Paulinenpflege ließ die Zeit zwischen 1945 und 1983 aufarbeiten. Das Ergebnis, das Sebastian Wenger zusammengefasst hat, „ist für uns alle, die wir heute in der Paulinenpflege Verantwortung tragen, sehr bedrückend“, sagt Marco Kelch. Als Konsequenz hat die Paulinenpflege Maßnahmen getroffen, damit künftig Gewalt und Missbrauch verhindert oder zumindest sehr schnell aufgedeckt werden können. Es soll nie wieder passieren, dass beispielsweise von Mitschülern gequälte Kinder oder Jugendliche, die sich hilfesuchend an Lehrer wenden, von diesen abgewiesen werden. „Unsere Haltung ist: Unsere Klienten werden vor Gewalt und sexueller Gewalt geschützt. Täter werden nicht gedeckt“, hat sich die diakonische Einrichtung jetzt auf die Fahnen geschrieben.

Ein sicherer Ort

Der heutige Vorstand der Paulinenpflege, Andreas Maurer, verweist darauf, dass die Forschung Wengers sich gezielt mit Gewalterfahrungen beschäftigt. Die Untersuchung sei keine Bilanz der Gesamtleistung dessen, was in der Einrichtung auch an Positivem geleistet wurde. „Wir wollen, dass die Paulinenpflege ein sicherer Ort für all die ist, die bei uns Unterstützung suchen“, betont Maurer.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könne aber helfen, heute einen besseren Weg zu gehen, ist er überzeugt. Im Vorwort zum Buch spricht er an, was Gewalt in der Pädagogik den Boden bereitet hat. Das reicht vom Unvermögen weiter Teile der Nachkriegsgesellschaft, neben dem materiellen Wiederaufbau auch eine „innere Erneuerung“ zu suchen, und fehlender Fachlichkeit bis hin zu einer „falsch verstandenen christlich motivierten Pädagogik“.

„Es ist mir schmerzlich bewusst, dass Betroffene solche Erfahrungen nicht einfach vergessen und vergeben können. Und ich weiß, dass solche Erlebnisse oft bis heute Leid verursachen“, schreibt Maurer. Deshalb können sich auch nach wie vor Betroffene in der Paulinenpflege Winnenden melden, die zusichert, dass sie das Erlebte ernst nehmen wird.

Susanne Müller