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Ernährung

Interview

Facharzt: "Mangelernährung heißt nicht, dass die Kinder zu dünn sind"




Hans Konrad Biesalski
epd-bild/Universität Hohenheim/Helge Fuss
Die Preise für Lebensmittel steigen rasant. Damit wächst die Gefahr, dass Kinder aus armen Familien schlecht ernährt werden. Und schon heute gibt es in Deutschland mangelernährte Kinder, sagt der Facharzt und emeritierte Professor der Universität Hohenheim, Hans Konrad Biesalski.

Stuttgart (epd). Der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski warnt vor den Folgen von Fehlernährung in Deutschland. „Sie gefährdet nicht nur das körperliche Wachstum, sondern auch die Hirnentwicklung“, sagte er im Interview mit epd sozial. Kinderärzte übersähen häufig, dass Übergewicht die Folge unzureichender Ernährung sein kann. Mit Biesalski sprach Anna Schmid.

epd sozial: Was ist Ernährungsarmut?

Hans Konrad Biesalski: Ernährungsarmut bedeutet: Es ist nicht möglich, sich mit den finanziellen Mitteln, die man hat, gesund zu ernähren. Das betrifft vor allem zwei Gruppen: Kinder und Senioren. Bei Kindern wird es bisher kaum wahrgenommen. Der oft zu hörende Satz 'Die Familien müssen nur kochen können' ist vor dem Hintergrund der Preise und der finanziellen Mittel, die zur Verfügung stehen, unüberlegt und falsch.

epd: Was braucht es für eine gesunde Ernährung?

Biesalski: Abwechslung in der Ernährung. Je mehr Energie Menschen mit stärkehaltigen Produkten aufnehmen, desto höher ist das Risiko einer Mangelernährung, das zeigen die Zahlen der UNO. Stärkehaltig sind etwa Kartoffeln, Nudeln oder Reis. Das ist billig und damit werden die Kinder satt. Aber wenn es um Mikronährstoffe geht, also Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, sind sie relativ wertlos. Neben Vitamin C und einer geringen Menge an wasserlöslichen Mikronährstoffen ist da wenig drin.

epd: Wie äußert sich Mangelernährung?

Biesalski: Mangelernährung heißt nicht, dass die Kinder zu dünn sind. Das sind sie oft nicht. Sie sind immer wieder sogar zu dick. Fettreiche Lebensmittel, die in den meisten Fällen mikronährstoffarm sind, sind billiger und begünstigen das, was die WHO double burden (doppelte Last) nennt: das Zusammentreffen von Übergewicht und Mangelernährung.

epd: Welche Folgen hat die schlechte Versorgung?

Biesalski: Sie gefährdet nicht nur das körperliche Wachstum, sondern auch die Hirnentwicklung. In erster Linie betrifft das die Unterversorgung mit Eisen, Zink und Jod. Damit ist nicht gesagt, wer arm ist, ist dumm. Sondern: Das Potenzial, das in einem Kind steckt, wird in der Mangelernährung nicht vollständig ausgeschöpft. Wie weit sich das Potenzial entwickelt hätte, können wir im Nachhinein nicht feststellen. Eine Studie mit 250.000 Kindern aus Brandenburg hat gezeigt, dass Kinder aus armen Verhältnissen bis zu 18 Mal häufiger Sprachentwicklungsstörungen haben. Das ist ein Zeichen für kognitive Verzögerung. Und die Kinder waren im Schnitt zwei Zentimeter kleiner als Kinder aus besseren Verhältnissen.

epd: Was könnte dagegen getan werden?

Biesalski: Es gibt eine Studie aus den USA: Kurz nach der Geburt eines Kindes bekamen 220 Familien aus armen Verhältnissen ein Jahr lang 300 Dollar im Monat, 215 andere 30 Dollar. Danach sah man mit Hilfe spezieller EEG-Methoden deutlich, dass sich die Hirnentwicklung der Kinder unterscheidet. Damit sind wir beim Grundbetrag für Kinder. Ihn anzuheben, ist das Beste, was man machen kann.

epd: Hilft es nicht, auf Sonderangebote zu schauen und auch zu einem weiter entfernt gelegenen Supermarkt zu radeln?

Biesalski: Sie können Discounter-Hopping machen, aber davon wird ihr Alltag nicht billiger. Jetzt sowieso nicht. Die Preise für Obst und Gemüse sind so gestiegen, dass das nicht mehr geht. Und gesunde Ernährung ist etwas, das man täglich haben muss. Über Monate und Jahre.

epd: Haben Sie Zahlen oder Schätzungen, wie viele Kinder in Deutschland von Mangelernährung betroffen sind?

Biesalski: Leider nein. Dabei wären sie dringend notwendig. Es fängt ja schon damit an, dass bei Schuleingangsuntersuchungen nur auf das Gewicht der Kinder geschaut wird. Aber es wird nicht darauf geachtet, ob ein Kind Zeichen von Mangelernährung zeigt. Auch weil es lange dauert, bis die ersten klinischen Anzeichen auftreten. Rachitis etwa, die bei uns selten geworden ist. Das ist dann aber schon das Endstadium. Die Probleme sind schon lange vorher da, das ist auch wissenschaftlicher Konsens.

epd: Kinderärzte übersehen Mangelernährung?

Biesalski: Ja. Dass Übergewicht Folge einer unzureichenden Ernährung ist, reich an Fett und arm an Mikronährstoffen, wird oft nicht in Betracht gezogen. Eine zu geringe Körpergröße ist ein Indikator. Die Wirkung auf die kognitive Entwicklung ein anderer. Zweifellos begünstigt eine Unterversorgung mit Mikronährstoffen auch das Auftreten von Infekten. Eine sorgfältige Ernährungsanamnese und eine gesteigerte Aufmerksamkeit bei Kindern aus armen Verhältnissen wären wichtige Maßnahmen.



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