Würzburg (epd). Ihre Hände, die das Kinderbild halten, zittern. Seit Monaten schläft sie schlecht. „Oft nur drei Stunden“, erzählt Karin Gerster. Der Gedanke an ihren Enkel Tim (beide Namen geändert) hält die Würzburgerin wach. Seit zwei Jahren darf sie Tim nicht mehr sehen. Das Bild in ihren Händen hat Tim noch in den guten Zeiten gemalt. Als sie ihn noch sehen konnte. Jetzt ist der Junge acht. Er geht in die zweite Klasse. Zu gern hätte Karin Gerster dem ABC-Schützen etwas in die Schultüte gesteckt. Doch das durfte sie schon nicht mehr.
Tim ist der Sohn ihres Sohnes und Gersters einziger Enkel. „Ich habe meinen Sohn alleine erzogen“, erzählt die Seniorin. Das Verhältnis sei immer gut gewesen. „Als Tim drei Wochen alt war, durfte ich ihn erstmals den ganzen Tag haben.“ Später kam das Kind regelmäßig einmal in der Woche zum Übernachten zur Oma. Ausgiebig frühstückten die beiden am nächsten Morgen: „Das war immer eine richtige Zeremonie.“
Vor zwei Jahren war plötzlich Schluss. Seitdem fühlt sich Karin Gerster wie eine verlassene Großmutter. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen Großeltern. Doris Kloster-Harz, Fachanwältin für Familienrecht in München, schätzt, dass jedes Jahr 150.000 Kinder den Kontakt zu ihren Großeltern verlieren.
Für Gerster war der Kontaktabbruch ein Schock. „Ich bin völlig am Ende“, schluchzt die Großmutter. Oft muss sie an die letzte Begegnung mit Tim im Februar 2020 denken. Damals war alles schon schwierig. Eifersucht der Schwiegertochter nennt Karin Gerster als Grund dafür. Bei dieser letzten Begegnung habe der sechsjährige Tim gesagt: „Oma, ich trau mich nicht mehr zu kämpfen.“ Erst später, sagt Gerster, sei ihr die Tragweite dieses Satzes bewusst geworden: „Tim war wohl klar, dass wir uns nicht mehr sehen können.“
Bei Sarah Lauter (Name geändert) sind inzwischen sechs Jahre ins Land gegangen, seit sie ihre vier Enkel zuletzt sah. Damals wohnte die Familie ihrer Tochter noch in der Nähe. Inzwischen lebt sie im Ausland. Der Abbruch habe aber mit dem Umzug nichts zu tun, erklärt die 63-Jährige. Alles, sagt sie, fing mit einer Therapie ihrer Tochter an. „Sie wollte sich selbst finden“, erzählt Lauter. Dieser Prozess machte es in den Augen der Tochter anscheinend notwendig, alle Brücken zu ihrer Herkunftsfamilie abzubrechen.
Sarah Lauter versucht, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Das sei alles andere als leicht, sagt die junge Großmutter, die sich in einer Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern und Großeltern engagiert. „Der Kontaktabbruch bedeutet einen tiefen Schmerz.“ Bei ihr habe es drei Jahre gedauert, bis sie anfangen konnte loszulassen. Als großes Glück empfindet sie es, dass sich das Blatt gerade zumindest ganz sacht zu wenden scheint: „Ich erhielt im März erstmals wieder eine Karte von meiner ältesten Enkelin.“
Lauter möchte auf die Problematik von Kontaktabbrüchen zwischen Großeltern und Enkeln aufmerksam machen. Deshalb geht sie an die Öffentlichkeit - aus Angst vor Konsequenzen durch ihre Tochter allerdings unter Pseudonym. Das Outing, sagt sie, koste Mut, laufen doch verlassene Großeltern Gefahr, mit Schuldvorwürfen konfrontiert zu werden. Irgendetwas, vermute das Umfeld, werde schon im Argen liegen, wenn Kinder ihren Eltern den Umgang mit den Enkeln verweigern.
„Früher war das kein Thema, doch seit zehn Jahren kommt dies immer häufiger vor“, sagt die Anwältin Doris Kloster-Harz. Prinzipiell hätten Kinder ein Umgangsrecht mit Bezugspersonen, dazu gehörten auch Großeltern und Geschwister. Das sei in Paragraf 1685 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geregelt: „Betrachtet wird dieser Rechtsanspruch allerdings ausschließlich aus dem Blickwinkel der Kinder.“ Gerichtlich durchgesetzt werde das Umgangsrecht also nur, wenn es dem Wohl des Kindes dient.
Für die betroffenen Kinder seien die Kontaktabbrüche sehr schade, sagt Ellen Hallmann vom Berliner Bildungsträger „Familien für Kinder gGmbH“. Oma und Opa zu haben, sei für Kinder erwiesenermaßen förderlich und eine Bereicherung, erklärt die Sozialpädagogin.