sozial-Politik

Behinderung

"Cast me in": Inklusion vor der Kamera




Erwin Aljukic
epd-bild/Dennis König
Filme und Serien im Fernsehen sollten eigentlich ein realistisches Abbild der Gesellschaft zeigen. Aber Menschen mit Behinderungen kommen auf dem Bildschirm kaum vor. Eine Initiative will das jetzt ändern.

Frankfurt a. M. (epd). Diversität ist das Schlagwort der Stunde, auch im Fernsehen. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen aber sind nach wie vor nur selten in Filmen und Serien zu sehen.

Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der Schwerbehinderten in Deutschland im Jahr 2019 bei 9,5 Prozent, aber nach einer Studie des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock vom Herbst 2021 sind sie im Fernsehen eindeutig unterrepräsentiert: Von den Akteurinnen und Akteuren der untersuchten Sendungen hatten nur 0,4 Prozent eine sichtbare schwere Behinderung.

Es gibt wenige prominente Ausnahmen

Natürlich gibt es prominente Beispiele, die ein anderes Bild nahelegen - und das nicht nur aus Hollywood, wo solche Rollen gern mit „Oscars“ gekrönt werden, etwa für Marlee Matlin als gehörlose Hauptdarstellerin von „Gottes vergessene Kinder“ (1986) oder für Dustin Hoffman als Autist in „Rain Man“ (1988). Im aktuellen TV-Programm sind unter anderen eine blinde Rechtsanwältin („Die Heiland“) zu sehen, ein blinder Sonderermittler („Der Wien-Krimi“, beide ARD) und ein Polizist im Rollstuhl („Die Toten von Salzburg“, ZDF). Christine Urspruch genießt als kleinwüchsige Assistentin des Rechtsmediziners im „Tatort“ aus Münster sogar Kultstatus.

Woran es jedoch noch mangelt, ist die selbstverständliche Integration, denn Figuren mit Handicap werden in der Regel über ihre Einschränkungen definiert. Rühmliche Ausnahme ist der „Tatort“ vom RBB: In den Filmen spielt Tan Caglar den Reviermitarbeiter für die Hintergrundrecherche. Der Schauspieler hat eine Rückenmarkerkrankung, er sitzt wirklich im Rollstuhl.

Dabei agierten vor der Kamera „deutlich mehr Menschen mit Behinderung, als man glaubt“, sagt der Drehbuchautor Benedikt Röskau („Contergan“): „Viele Schauspieler sprechen darüber jedoch nicht, weil sie fürchten, nicht mehr besetzt zu werden.“

Betroffene sichtbar machen

Auch Erwin Aljukic ist Rollstuhlfahrer. Er hat die Glasknochenkrankheit, hat fast 13 Jahre im einstigen ARD-Dauerbrenner „Marienhof“ mitgewirkt. Er gehört zu den Unterstützern einer Initiative, die von Tina Thiele, der Gründerin des Branchenportals Casting-Network, ins Leben gerufen worden ist: „Cast me in“ soll zur Inklusion vor der Kamera beitragen.

Aljukic ist Thiele sehr dankbar für ihre Pionierarbeit, wie er sagt: „Bislang bin ich mir als Schauspieler mit Behinderung wie ein Einzelkämpfer vorgekommen, denn im Unterschied zu Mitgliedern anderer marginalisierter Gruppen konnte ich nie auf eine Initiative in der Art von 'ActOut', 'Back Lives Matter' oder 'MeToo' verweisen. Erst wenn es eine derartige Bewegung gibt, die eine Sichtbarkeit der Betroffenen erzeugt, können sich die Sender nicht mehr rausreden.“

„Vielfalt im Fernsehen ist wichtig“

Die RTL-Gruppe ist mit gutem Beispiel vorangegangen: In der Komödie „Weil wir Champions sind“ (Vox) spielt Wotan Wilke Möhring einen arroganten Basketball-Coach, der nicht ganz freiwillig ein Team geistig behinderter Spieler trainiert. Diese Rollen sind authentisch besetzt worden. Produzentin Nina Viktoria Philipp betont, es sei kein Problem gewesen, die Geldgeber von dem Projekt zu überzeugen.

Übereinstimmend versichern Senderverantwortliche, wie wichtig Vielfalt im Fernsehen sei, „denn Filme spiegeln und formen unser Bild der Gesellschaft“, wie es Christoph Pellander formuliert, der Redaktionsleiter der für die Donnerstagskrimis und Freitagsfilme im „Ersten“ verantwortlichen ARD-Tochter Degeto. Frank Zervos, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie I und stellvertretender Programmdirektor, merkt allerdings an, dass die filmische Darstellung von Behinderungen eine sensible Angelegenheit sei: „Es sollen ja keine reinen Stereotype - hochbegabter Autist, musikalische Blinde etc. - reproduziert werden.“

„Keine blinde Hauptdarstellerin gefunden“

Nachholbedarf gibt es laut Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, zudem in der Frage, wer solche Rollen übernehme. Produzentin Philipp war auch für die ersten beiden „Heiland“-Staffeln verantwortlich. Bei der Planung der Serie habe es eine enge Zusammenarbeit mit Verbänden gegeben, und natürlich sei gefragt worden, warum die Hauptfigur der blinden Anwältin nicht von einer blinden Darstellerin verkörpert werde. Philipps Antwort: „Die Schauspielerei ist ein Handwerk, ein Beruf, den man gelernt haben sollte. Selbstverständlich haben wir nach einer blinden Hauptdarstellerin gesucht, aber wir haben keine gefunden, die für diese Figur infrage gekommen wäre.“

Es sei daher umso wichtiger, sagt Erwin Aljukic, „dass Menschen mit Behinderung eine professionelle Ausbildung machen können, damit solche Verlegenheitslösungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.“ Er fordert eine Diversitätsquote, damit endlich Bewegung in die Sache komme: „Ähnlich wie in Großbritannien sollte die Vergabe öffentlicher Gelder mit der Auflage verbunden sein, divers zu besetzen. Das wäre der Stein, der alles andere ins Rollen bringen würde.“

Tilmann P. Gangloff