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Behinderung

Interview

Fichtmüller: Oberlinhaus soll offener Ort der Begegnung bleiben




Matthias Fichtmüller
epd-bild/Jens Schulze
Nach der tödlichen Gewalttat im Oberlinhaus vor einem Jahr, bei der vier schwerbehinderte Bewohner durch eine Angestellte getötet wurden, bleibt dem Vorstand der Einrichtung als schmerzhafte Erkenntnis: Solche Taten lassen sich nicht sicher verhindern.

Potsdam (epd). Am 28. April vor einem Jahr wurden im Potsdamer Oberlinhaus vier Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen von einer Pflegekraft getötet. Die Frau wurde Ende vergangenen Jahres wegen Mordes verurteilt und wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung in die Psychiatrie eingewiesen. Eine Erkenntnis daraus sei, dass es absolute Sicherheiten nicht gebe, sagte der theologische Vorstand des evangelischen Sozialunternehmens, Matthias Fichtmüller, dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Potsdam. Kein Konzept, keine Intervention und keine Prophylaxe könnten eine solche Tat verhindern. Mit Fichtmüller sprach Yvonne Jennerjahn.

epd sozial: Wie geht es den Menschen im Oberlinhaus ein Jahr nach dem Gewaltverbrechen vom 28. April 2021?

Matthias Fichtmüller: Sowohl Bewohnerinnen und Bewohner als auch die Mitarbeitenden haben in ihren Alltag zurückgefunden. Seelsorgerliche Angebote gibt es je nach Bedarf weiterhin sowie alle Formen des Austausches wie Supervisionen, Mitarbeitergespräche und so weiter. Das Gespräch ist wichtig. Auf allen Ebenen des Oberlinhauses sind die Geschehnisse des vergangenen Jahres präsent. Manche Äußerungen während der Berichterstattung über den Prozess haben Bewohnerinnen und Bewohner und Mitarbeitende sehr irritiert, weil ihr Lebensalltag von anderen Eindrücken geprägt ist.

Nach einer Zeit der sensiblen Rücksichtnahme und nach Abschluss des Prozesses mit Urteilsverkündigung am 22. Dezember war es Bewohnerinnen und Bewohnern und Mitarbeitenden wieder möglich, sich unter respektvoller Behutsamkeit den Fragestellungen beispielsweise von Medienvertreterinnen und Medienvertretern zu öffnen. Das hat dazu geführt, dass nun auch differenziertere Wahrnehmungen aus dem Lebensalltag von Menschen, die schwerst-mehrfachbehindert sind, möglich sind.

epd: Wie haben die Gewalttaten das Leben der Menschen verändert?

Fichtmüller: Eine Erkenntnis ist: Absolute Sicherheiten kann niemand geben. Kein Konzept, keine Intervention und auch keine Prophylaxe kann solch eine Tat verhindern. Auch nicht mit einem Konzept zu Amokläufen, wie wir sie zum Beispiel in den Schulen und im Oberlin-Berufsbildungswerk haben. Natürlich haben wir Gewaltschutzkonzepte in jeder unserer Einrichtung, aber auf eine solche singuläre Tat konnten wir nicht vorbereitet sein. Nach Aussagen der Polizei hätten wir das, was am 28. April 2021 passiert ist, nicht verhindern können.

Wir haben uns zuallererst um die 60 Bewohnerinnen und Bewohner und um die Mitarbeitenden im Thusnelda-von-Saldern-Haus zu kümmern. Der 28. April 2021 hat uns nicht nur aus der Bahn geworfen, sondern uns in eine neue Verantwortung genommen: für Klientinnen und Klienten, aber auch für die Mitarbeitenden. Wir haben es von Anfang an geahnt, und im Laufe der Zeit ist es Gewissheit geworden: Es gibt Fragen im Zusammenhang mit der Tat, die wir niemals beantwortet bekommen. Und das ist ein Zustand, der alle, ob Medienvertreter, Bewohnerinnen und Bewohner oder Mitarbeitende in einer gewissen Schwebe hält. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir auf das „Warum“ keine Antworten bekommen.

epd: Wie geht das Oberlinhaus damit um?

Fichtmüller: Immer wieder machen wir Mut, sich zu engagieren. Dazu gehört beispielsweise, sich für die Bewohnerschaftsräte aufstellen zu lassen, sich mit anderen Bewohnerschaftsräten zu vernetzen. Wir haben insofern nichts Neues erfunden, sondern das, was bereits vorhanden war, in den besonderen Fokus gerückt. Gleichzeitig wurden viele Gespräche mit den Landes- und Kommunalbeauftragten für Menschen mit Behinderungen geführt. Viele dieser Gespräche haben hier vor Ort im Oberlinhaus stattgefunden, wir stehen bis heute in einem sehr intensiven Austausch.

Das Oberlinhaus war immer ein offener Ort der Begegnung. Das soll auch so bleiben. Integration und das Zusammenleben mit Menschen mit Behinderungen gehörten immer schon in Potsdam-Babelsberg zum Alltag der Gesamtgesellschaft. Ein Ausdruck dessen war die übergroße Anteilnahme und Unterstützung aus der Nachbarschaft und aus ganz Potsdam.

epd: Anfang des Jahres wurde eine Expertenkommission angekündigt, die sich mit Standards in Wohneinrichtungen für Behinderte befassen und Ende August einen Bericht vorlegen soll. Wie weit ist die Kommission und wer gehört ihr an?

Fichtmüller: Mit der Gründung einer Expertenkommission wollen wir die Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe und die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes diskutieren. Was muss sich ändern? Wie kann das Bundesteilhabegesetz in der Eingliederungshilfe umgesetzt werden? Welche Personalaufstellung ist notwendig? Die Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung brauchen eine Aufmerksamkeit und eine Verbesserung, wie auch die Rahmenbedingungen der Beschäftigten in der Eingliederungshilfe. Unser ursprüngliches Ziel, bis Ende August 2022 erste Ergebnisse vorstellen zu können, werden wir aufgrund der Komplexität nicht einhalten können. Die Expertengruppe setzt sich aus Vertretern von Verbänden, Trägern, Wissenschaft, Lehre sowie Recht zusammen.

epd: Wann ist mit ersten Ergebnissen oder Zwischenergebnissen zu rechnen?

Fichtmüller: Erste Zwischenergebnisse planen wir im Spätherbst dieses Jahres kommunizieren zu können.

epd: Was muss sich aus Ihrer Sicht im System der Eingliederungshilfe für Behinderte ändern?

Fichtmüller: Wir haben in den vergangenen Monaten deutlich erkannt, dass das Wissen um Teilhabeleistungen, vor allem in der Assistenz von Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung, in der Öffentlichkeit sehr wenig bekannt sind. Hinzu kommt, dass auch die unterschiedlichen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen sehr undifferenziert wahrgenommen werden, da dies tatsächlich auch eine große Komplexität hat.

Die Geschehnisse im Oberlinhaus haben ein Brennglas auf die Rahmenbedingungen von Teilhabeleistungen und Bedarfen von Menschen in besonderen Wohnformen in ganz Deutschland gelegt. Wenn es eine Lehre aus den Ereignissen des gesamten letzten Jahres gibt, dann diese, dass wir berichten müssen, wie die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe sind. Und was die Gesellschaft oder jeder einzelne Mensch dazu beitragen kann, um sie zu verbessern. Was ist der Gesellschaft eine gute Pflege wert? Das ist keine abstrakte Frage, das betrifft auch Sie und mich. Spätestens beim Bemessungssatz für die Pflegeversicherung ist die Beantwortung dieser Frage bei jedem und jeder Einzelnen angekommen. Aber die Expertenkommission ist kein politisches Gremium. Es geht vielmehr darum, Verbesserungsideen für die Eingliederungshilfe und auch für die Ausbildung in Teilhabeberufen zu entwickeln. Dabei liegt die Prämisse auf Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen.

epd: Sollten Beschäftigte, die mit wehrlosen hilfebedürftigen Menschen arbeiten, stärker auf ihre - auch psychische - Eignung dafür geprüft werden?

Fichtmüller: Hierfür gibt es festgelegte Regularien. So werden Führungszeugnisse zur Einstellung und im regelmäßigen Turnus eingeholt.