sozial-Branche

Diakonie

Mariaberger Heime: 175 Jahre Arbeit in der Behindertenhilfe




Historisches Foto von der "Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für schwachsinnige, taubstumme und sonst gebrechliche Kinder" (heute: Mariaberger Heime)
epd-bild/Mariaberg e.V.
Die Mariaberger Heime zählen zu den ersten diakonischen Einrichtungen in Deutschland. Vor 175 Jahren nahmen sie ihre Arbeit für Behinderte mit innovativen Ansätzen auf. Ohne Königin Olga hätte das Ganze aber nicht funktioniert.

Gammertingen-Mariaberg (epd). Der Gründungsname der Mariaberger Heime klingt in modernen Ohren wenig schmeichelhaft: „Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für schwachsinnige, taubstumme und sonst gebrechliche Kinder“. Was vor 175 Jahren in einem ehemaligen Benediktinerinnenkloster auf der Schwäbischen Alb ins Leben gerufen wurde, war allerdings recht innovativ. Junge Menschen mit Behinderungen sollten in Mariaberg ärztliche Hilfe und Bildung bekommen.

Königin stiftete 10.000 Gulden

Heute kümmern sich in Mariaberger Einrichtungen in sieben Landkreisen insgesamt 1.750 Mitarbeiter um mehr als 3.000 Menschen. Das Wachstum war langsam, aber stetig. Zum 25-jährigen Bestehen im Jahr 1872 verzeichnete die Einrichtung 72 Zöglinge. Am Anfang brauchte es königliche Hilfe: Olga von Württemberg stiftete ein Grundkapital von 10.000 Gulden als Anschubfinanzierung.

In den 1850er-Jahren ergab eine Untersuchung, dass knapp 5.000 Menschen mit „Cretinismus“ in Württemberg lebten. Der Begriff kennzeichnete eigentlich eine durch Jodmangel ausgelöste Entwicklungsverzögerung von Kindern, umfasste dann aber oft alles, was mit geistiger Behinderung zu tun hatte. Das Heim in Mariaberg zählte unter seinem Gründer, dem Uracher Oberamtsarzt Carl Heinrich Rösch, zu den Pionieren in Therapie und Pädagogik für die Betroffenen. Sie bekamen Schulunterricht, dazu Unterweisung in praktischen Arbeiten wie Bürstenbinden, Korbflechten, Stricken und Häkeln.

Die Nationalsozialisten mit ihrem Hass auf Behinderte und dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ setzten 1940 von 210 Bewohnern der Anstalt 137 auf die Todesliste. Mehr als die Hälfte von ihnen konnten auf Intervention der Mariaberger Einrichtung gerettet werden, aber 61 wurden im nahegelegenen Grafeneck vergast. Seit 1990 erinnert ein Mahnmal an die Opfer der Euthanasie, im vergangenen Jahr ist eine Dauerausstellung zu diesem Thema hinzugekommen.

Der erste Angehörigenbeirat in Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg nannte sich das Haus „Erziehungsheim mit Sonderschule Mariaberg“, die Ausbildungsmöglichkeiten der Behinderten wurden stetig erweitert. Inzwischen sind es 22 Berufe, die junge Menschen in der Region erlernen können. Folgerichtig wurde 1971 auch eine „Schule für Heilerziehungspflege“ gegründet, um für den pflegerischen Nachwuchs zu sorgen. Einen neuen Weg ging man in Mariaberg 1976 mit der Einrichtung eines Angehörigenbeirats - so etwas hatte es bis dahin in Deutschland nirgends gegeben.

Mariaberg ist seit Jahrzehnten nicht nur eine soziale Einrichtung, sondern auch ein Ortsteil der Stadt Gammertingen. Die Verantwortlichen haben sich zum Ziel gesetzt, hier einen „Stadtteil mit Charme“ zu entwickeln. Damit verfolgen sie einen inklusiven Ansatz, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung Tür an Tür wohnen. Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, weist in einem Grußwort darauf hin, dass Mariaberg eine noch längere Tradition habe als die Diakonie Deutschland. Der Ort besitze eine „Energie tätiger Menschenliebe“.

Trotz der langen Geschichte soll das Jubiläum nur sehr bescheiden gefeiert werden. Der Gedanke an Festakte, Bankette und andere Feierlichkeiten habe „nicht angesprochen“, schreiben die Vorstände Rüdiger Böhm und Michael Sachs im Vorwort zur Jubiläumsschrift. Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg hätten die Entscheidung gegen ein großes Fest zusätzlich beeinflusst. So begnügen sich die Mariaberger mit dem feierlichen Gottesdienst am 8. Mai, in dem der Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Frank Otfried July, predigen wird.

Marcus Mockler