sozial-Politik

Krieg in der Ukraine

Forscher: "Die große Solidarität mit Geflüchteten wird anhalten"




Paul Berbée
epd-bild/ZEW
Die Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger für Flüchtlinge aus der Ukraine ist riesig. Doch wird sie anhalten? Der Mannheimer Migrationsforscher Paul Berbée ist überzeugt davon, dass die ehrenamtliche Unterstützung über die Akutversorgung hinausreichen wird. Auch, und das sagt er im Interview mit epd sozial, weil die Voraussetzungen heute ganz andere sind als im Jahr 2015.

Paul Berbée hat für das ZEW - Leibniz-Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung Mannheim untersucht, wie die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe von 2016 bis 2019 die Integration der Migranten fördert. Eine rege Zivilgesellschaft sei ganz entscheidend, so eine der Erkenntnisse der Studie. Das gelte auch heute. „Vertrauenspersonen für Geflüchtete sehr wichtig sind, um sich in den sozialen Diensten und der deutschen Bürokratie zurechtzufinden“, so der Experte. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Berbée, Sie haben eine Studie über die Rolle von ehrenamtlichem Engagement für die Integration von Flüchtlingen nach 2015 verfasst. Bevor wir zum Ukrainekrieg und der aktuellen Lage der Flüchtlinge kommen, möchte ich wissen, was die Kernergebnisse Ihrer Untersuchung waren.

Paul Berbée: Kurz gesagt: In Regionen, wo sich besonders viele Menschen freiwillig engagieren und es eine lebendige Zivilgesellschaft gibt, haben Geflüchtete mehr Kontakte zu Einheimischen und sind besser in die Aufnahmegesellschaft integriert. Dabei profitieren Frauen und Menschen mit niedrigem Bildungsstand besonders von ehrenamtlicher Unterstützung. Diese Hilfe deckt eine große Bandbreite an Aktivitäten ab, die weit über das Sammeln von Sachspenden und Losschicken von Hilfskonvois hinausgehen. Das reicht von Freizeitangeboten und Sprachunterricht über Beratung in Alltagsfragen und Begleitung bei Behördengängen bis hin zu Unterstützung bei Bewerbungen und der Jobsuche. Das war und ist ein sehr wertvoller Beitrag zur Integration, der geleistet wird. Ehrenamtliche sollten deshalb vor Ort eng in die Integrations- und Sozialpolitik eingebunden werden.

epd: Wie ließ sich das messen?

Berbée: Meine Koautoren und ich kombinieren für unsere Studie repräsentative Befragungsdaten von Geflüchteten mit Gründungen von Hilfsvereinen aus den Vereinsregistern. Diese Zahlen zeigen, dass dort, wo sich mehr Einheimische in der Flüchtlingshilfe engagieren, Geflüchtete im Durchschnitt besser Deutsch sprechen, mehr soziale Kontakte haben und generell über eine höhere Lebenszufriedenheit verfügen. Das gilt unabhängig von der regionalen Wirtschaftskraft, Bevölkerungsstruktur oder Arbeitsmarktlage. Interessanterweise besteht außerdem ein positiver Zusammenhang zwischen ehrenamtlicher Unterstützung und einem verbesserten Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen. Das deckt sich mit früheren Studien, die zeigen, dass Vertrauenspersonen für Geflüchtete sehr wichtig sind, um sich in den sozialen Diensten und der deutschen Bürokratie zurechtzufinden.

epd: Was heißt das für die Integration der Ukrainer?

Berbée: Zunächst mal, dass man die Bedeutung des Ehrenamtes für die Integration nicht unterschätzen sollte. Die Neuangekommenen profitieren sehr davon, wenn sie über Freiwillige Zugang zu Netzwerken bekommen, etwa zu Behörden, Firmen, Vereinen oder Schulen und Kindergärten. Das ist eine sehr wichtige Ergänzung zu den sozialstaatlichen Angeboten, die es natürlich auch braucht. Ich gehe davon aus, dass die ukrainischen Communities, die es schon länger in Deutschland gibt, hier eine besonders wertvolle Hilfe leisten können.

epd: Über 190.000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind schon in Deutschland registriert, vermutlich sind es aber schon weit mehr. Wie sehen Sie das derzeitige ehrenamtliche Engagement und erinnert Sie das an 2015, wenn sie die Bilder von unzähligen Flüchtlingen sehen?

Berbée: Ja, es gibt sicher eine Reihe von Parallelen, auch wenn man die Ereignisse nicht gleichstellen sollte. Wir haben eine Situation, die sich von Tag zu Tag ändert. Das stellt Behörden und Hilfsorganisationen vor Herausforderungen, weil sie sehr kurzfristig reagieren und pragmatische Entscheidungen treffen müssen. Außerdem nehmen viele Bürger Anteil, bieten spontan ihre Arbeitskraft an oder organisieren Hilfsangebote. Man sieht wieder eine große Solidarität.

epd: Wo liegen die Unterschiede zu der Lage 2015?

Berbée: Da ist zunächst die andere Ausgangslage, der Krieg mitten in Europa, von dem Deutschland viel unmittelbarer betroffen ist. Dann ist es natürlich die Zusammensetzung der Flüchtlinge. Heute kommen mit deutlicher Mehrheit Frauen und Kinder sowie ältere Menschen und nur wenige jüngere Männer. Außerdem haben wir heute Erfahrungswerte und bessere Strukturen als noch 2015, etwa bei der Bundesagentur für Arbeit, die in spezielle Programme für Geflüchtete investiert hat oder beim BAMF, das sein Angebot an Integrationskursen stark hochgefahren hat. Doch fehlt es sicher noch immer an Kita-Plätzen, und auch Plätze in der psychologischen Betreuung zu finden, ist schwierig.

epd: Gehen Sie davon aus, dass die große Solidarität wirklich andauern wird? 2015 war das nicht der Fall.

Berbée: Auch wenn sich der öffentliche Diskurs um die sogenannte „Willkommenskultur“ im Laufe der Zeit sicher verändert hat, würde ich nicht sagen, dass die Solidarität nach 2015 eingebrochen ist. Im Deutschen Freiwilligensurvey gaben 2019 immer noch 3,6 Prozent der Befragten an, sich aktuell in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind das mehr als 2,5 Millionen, deutlich mehr, als Geflüchtete nach Deutschland kamen. Ich erwarte deswegen, dass die privaten Hilfen auch dieses Mal über die akute Notversorgung hinausgehen werden.

epd: Die Sympathien der Bürger waren nach 2015 irgendwann erschöpft, es gab sogar einen Stimmungsumschwung. Welche Gründe hatte das und droht ein solcher Kipppunkt auch heute?

Berbée: Da muss man sehr vorsichtig sein mit Prognosen. Die Lage war 2015 völlig anders. Und es gab dann Ereignisse, die die Stimmung auch wegen des riesigen medialen Echos negativ beeinflusst haben, wie die Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es einen Unterschied macht, dass dieses Mal unter den Flüchtenden überwiegend Frauen und Familien sind. Außerdem ist das Verständnis, warum und woher diese Menschen kommen, sehr viel deutlicher ausgeprägt. Das könnte die Solidarität mit ihnen stärken, auch längerfristig.

epd: Täuscht es oder herrscht nicht doch noch ein ziemliches Chaos im Umgang mit den Flüchtlingen - von privaten Hilfskonvois bis zur privaten Aufnahme der Menschen? Ließe sich das nicht besser zentral steuern?

Berbée: Ehrenamtliche Gruppen sind verglichen mit staatlichen Einrichtungen besser darin, flexibel und kurzfristig auf sich verändernde Situationen zu reagieren. Das macht sie aktuell an vielen Stellen unentbehrlich, um die Unterstützung für die Geflüchteten zu gewährleisten, zumindest so lange, bis die Verwaltungen die Hilfsstrukturen von offizieller Seite aufgebaut haben. Ich glaube, dass es in der aktuellen Lage wichtig ist, pragmatisch zu sein und dass zu viele zentrale Vorgaben auch kontraproduktiv sein können.

epd: Was meinen Sie damit?

Berbée: Natürlich muss man diejenigen, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen können, besser auf die Bundesländer verteilen. Die Erfahrungen aus 2015 zeigen aber auch, dass eine generelle Wohnsitzauflage die Integrationschancen insgesamt verschlechtert. Auch die frühzeitige Entscheidung, dass die Menschen aus der Ukraine keine langwierigen Asylverfahren durchlaufen müssen und unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten, wird nicht nur den bürokratischen Aufwand reduzieren, sondern auch die Integration in Deutschland deutlich erleichtern.