Erlangen (epd). Europa hat in den vergangenen Jahren mehrere Fluchtbewegungen erlebt - doch diesmal ist die Aufnahmebereitschaft in den Ländern der Europäischen Union (EU) so hoch wie nie. Das hat der Politikwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Petra Bendel zufolge verschiedene Gründe, sagt sie im Interview mit dem epd. Bendel leitet den Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration des Instituts für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
epd sozial: Frau Bendel, täuscht der Eindruck, oder ist die Aufnahmebereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine derzeit deutlich größer als bei vorangegangenen Fluchtbewegungen?
Petra Bendel: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Die Aufnahmebereitschaft in der EU ist vor allem insofern größer, als sich aktuell auch solche Staaten solidarisch erklären, die das in der Vergangenheit abgelehnt haben - namentlich Polen und Ungarn.
epd: Wie erklären Sie sich das? Liegt das zuvorderst daran, dass uns der Ukraine-Krieg rein geografisch näher liegt als etwa die Kriege in Syrien oder in Afrika?
Bendel: Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Wir sind in der EU nunmehr Anrainer eines Krieges. Darüber hinaus sind auch bisher schon viele Ukrainerinnen und Ukrainer in EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Polen, Italien oder Spanien wohnhaft. Das beeinflusst natürlich die Wahrnehmung. In Polen etwa hat eine Umfrage der Uni Warschau ergeben, dass Ukrainer ganz überwiegend als Kollegen und Nachbarn wahrgenommen werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich momentan bei den Schutzsuchenden vor allem um Frauen und Kinder mit besonderem Schutzbedarf handelt.
epd: Es macht inzwischen das Wort vom „Fluchtrassismus“ die Runde: Hellhäutige Ukrainerinnen sind willkommen, Flüchtlinge aus arabischen und afrikanischen Ländern eher nicht...
Bendel: Der Sachverhalt ist sicherlich komplexer als das Schlagwort. Ich wiederhole mich: Wir haben in Deutschland Schutzsuchende aus Ländern wie Syrien, dem Irak und Afghanistan aufgenommen - und zwar mit beachtlichen Integrationserfolgen. Gleichwohl harren immer noch Asylsuchende auf griechischen Inseln aus. Es gibt immer noch Pushbacks von Asylsuchenden an EU-Außengrenzen, es ertrinken weiterhin Schutzsuchende auf dem Mittelmeer, und in Afghanistan warten nach wie vor Menschen auf ihre Ausreise. Und für Menschen aus Nicht-EU-Ländern ist die Flucht aus der Ukraine rechtlich zwar möglich, praktisch gesehen aber auch nicht so einfach.
epd: Der rechtliche Rahmen heute ist ein anderer als 2015/2016, Stichwort Massenzustrom-Richtlinie. Hängt die hohe Aufnahmebereitschaft auch damit zusammen?
Bendel: Zumindest war die Entscheidung, die Massenzustrom-Richtlinie in Kraft zu setzen, dringend nötig. Zum einen, weil so eine unbürokratische und rasche Aufnahme Geflüchteter möglich ist. Zum anderen, weil die Aufnahme der Schutzsuchenden diesmal von Anfang an europäisch gedacht wird, denn die Entscheidung für die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie wurde ja einstimmig gefällt. Für uns in Deutschland ist die Umsetzung dieser Richtlinie vielleicht sogar besonders folgenreich...
epd: Wie meinen Sie das?
Bendel: Unser bisheriges Asylmodell ist sehr straff organisiert: Neu ankommende Geflüchtete werden erst einmal zentral registriert und vorwiegend auch in großen Unterkünften untergebracht. Aktuell läuft es anders. Und ich finde, wir sollten wissenschaftlich untersuchen, ob sich die rasche Gewährung eines Aufenthaltsrechts sowie die freie Wahl des Wohnorts und der schnelle Zugang zur Arbeit gegenüber dem bisherigen Vorgehen bewähren. Dann könnte die ganze Asylpolitik vielleicht neu gedacht werden.
epd: Wenn jetzt ukrainische Geflüchtete privat bei ihnen bislang Unbekannten unterkommen, für wie problematisch halten Sie das, wenn das nicht zentral registriert wird?
Bendel: Wir dürfen die große Hilfsbereitschaft nicht unter Generalverdacht stellen, sondern erst einmal würdigen, müssen aber angesichts der Gefahr von Missbrauch auch sehr wachsam sein. Alle Unterkunftsangebote sollten ohnehin, wenn irgend möglich, registriert werden. Zum einen, damit man nachverfolgen kann, ob die Integrationsangebote bei den Menschen ankommen und genutzt werden - und zum anderen, damit eine sinnvolle Verteilung auf alle Bundesländer leichter fällt. Ohne ein Registrierungssystem - das ja im Moment nur den Ausländerbehörden der Länder obliegt - ist ein erheblicher Aufwand nötig, um auch nur annähernd zu schätzen, wie viele Menschen eigentlich gekommen sind und welche Unterstützungsangebote benötigt werden.
epd: Was wird bei der Integration der ukrainischen Geflüchteten die größte Herausforderung für die Aufnahmeländer?
Bendel: Die größte Herausforderung ist eigentlich immer, die gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten sicherzustellen - von Anfang an. Das wären der Zugang zu Sprachkursen, Bildungsangeboten, Arbeit, Wohnraum und zur Gesundheitsversorgung. Weil aktuell besonders viele Frauen mit Kindern zu uns kommen, wird es eine große Herausforderung sein, die Kinderbetreuung sicherzustellen. Das ist nicht ganz trivial, denn Kita-Plätze sind mancherorts ja jetzt schon Mangelware...